Umwelt an Gehirn – Gehirn an Umwelt

Januar 2024

Unsere Wahrnehmungen sind eine „kontrollierte Halluzination“ unseres Gehirns, was wir als Wirklichkeit begreifen, ist also nichts „Objektives“, sondern quasi abhängig von der Bauart unseres Denkorgans. Der Neurowissenschaftler Anil Seth popularisiert diese Erkenntnis derzeit auf allen Kanälen. Eine Konsequenz dieser sich inzwischen weit verbreitenden Auffassung betrifft auch die Umwelt- und Klimadebatte. Glaubte man lange Zeit, durch ein Mehr an sachlicher Aufklärung und wissenschaftlicher Information die Bereitschaft von Menschen zu fördern, das Klimaproblem anzuerkennen und sich dementsprechend vernünftig und zukunftsbewusst zu verhalten, rückt jetzt das Gehirn mit seiner eigenen Funktionsweise in den Fokus. Kimberly Doell und ihre Kollegen und Kolleginnen vom Institut für Psychologie der Kognition an der Universität Wien fragen deshalb in ihrem Beitrag „Leveraging neuroscience for climate change research (in Nature Climate Change | Volume 13 | December 2023 | 1288–1297): „Welche neurowissenschaftlich fundierten Erkenntnisse können uns helfen, den Klimaschutz zu fördern? Konkret: Wie lassen sich neuronale Prozesse gezielt nutzen, um die Akzeptanz massiver klimapolitischer Maßnahmen zu steigern?

 

Es geht um Antworten auf die Frage: Wie funktioniert „Gehirn an Umwelt“ – also die aktive Verarbeitung und „Halluzination“ des Klimaproblems im Gehirn?

 

Die Wiener Neurowissenschaftler stellen dazu u.a. fest, dass ihre Disziplin ja bereits fundierte Einblicke in die relevanten neuronalen Vorgänge liefere. Sie berichten: „Beispielsweise zeigten Teilnehmer in einer kürzlich durchgeführten Studie, als sie aufgefordert wurden, darüber nachzudenken, wie sie ihr umweltfreundliches Verhalten verbessern könnten (zum Beispiel beim Fahren mit dem Zug), eine erhöhte Aktivität in Gehirnregionen, die an der Belohnungsintegration beteiligt sind. Umgekehrt zeigten die Teilnehmer, wenn sie angewiesen wurden, über die Verringerung umweltschädlicher Verhaltensweisen nachzudenken (z. B. die Reduzierung der Heizung), eine erhöhte Aktivität in Regionen, die an der Vorhersage von Verlusten und der kognitiven Kontrolle beteiligt sind.“ Bemerkenswert fanden die Forscher daran, dass die Menschen „eine Verstärkung umweltfreundlicher Verhaltensweisen für praktikabler halten als eine Verringerung ihres umweltschädlichen Verhaltens“.

 

Diese Dissoziation auf neuronaler Ebene könne uns helfen, „besser zu verstehen, warum Menschen in der Lage sind, neue umweltfreundliche Verhaltensweisen anzunehmen und gleichzeitig weiterhin umweltschädliche Gewohnheiten beizubehalten“. In diesem „inkonsequenten“ Verhalten liegt also weder ein charakterlicher Mangel noch ein kognitives Defizit, sondern es ist eine Konsequenz unserer neurobiologischen Ausstattung.

 

Auch der Neurowissenschaftler Henning Beck hat sich mit diesem scheinbaren Widerspruch auseinandergesetzt. Er kommt zu dem Schluss: "Das Gehirn kann zwar eine Vorstellung von der Zukunft aufbauen. Aber wir sind in dieser Zukunft eine fremde Person." Und die Interessen dieser fremden Person seien eigentlich irrelevant gegenüber unseren heutigen Bedürfnissen. Aus der Zukunftsperspektive betrachtet mag der Verzicht auf bestimmte Verhaltensweisen zur Befriedigung unserer heutigen Bedürfnisse zwar angemessen erscheinen, aber für das Belohnungssystem unseres Gehirns spielt das keine Rolle. Unser Gehirn belohnt uns nicht für Verzicht. 

Kimberly Doell und ihre Kolleg(inn)en geben in einer Tabelle einen Überblick über die verschiedenen kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozesse des Gehirns, die mit Aspekten der Verarbeitung des Klimaproblems befasst sind. Sie benennen sogar die entsprechenden neuronalen „Orte“, an die diese Prozesse hirnphysiologisch gebunden erscheinen. Wir haben die Tabelle noch etwas aufbereitet, um die Zusammenhänge zu verdeutlichen:

„Gehirn an Umwelt“: Aktive Verarbeitung des Klimaproblems im Gehirn

Bewusstsein für zukünftige Folgen des Klimawandels

 

 

Abwägung der aktuellen Kosten des Klimaschutzes gegen die zukünftigen Folgen der Untätigkeit

 

Bewusstsein für die Risiken von Klimaschutzhandeln im Vergleich zu Nichthandeln

 

 

 

Bewusstsein für die soziale Natur des Klimaproblems

 

 

 

 

 

 

Einschätzung des Belohnungswerts bestimmter Maßnahmen; Prognose des Bedarfs an nachhaltigen Produkten in der Bevölkerung

 

Integration von Kosten und Erträgen im Zusammenhang mit eigenen Verhaltensoptionen; Vorhersage des allgemeinen Effekts von Kommunikationsstrategien

 

Übersetzung von Absichten in konkrete Handlungen

 

Kognitive und emotionale Prozesse

Kursiv: Eigene Ergänzungen

Mentale Simulationen der Zukunft: Wie verknüpfen wir bestehende Erfahrungsinhalte mit Vorstellungen unseres zukünftigen Lebens?

Zeitliche Diskontierung: Je weiter entfernt die möglichen Folgen zeitlich von uns sind, desto weniger beeinflussen sie unser Verhalten heute

Risikowahrnehmung und Verlustaversion: Abhängigkeit der gegenwärtigen Bereitschaft zum Verzichten/Vermeiden von den „halluzinierten“ Verlusten in der Zukunft

Mentalisierung und Perspektivenübernahme: Welche Annahmen treffe ich über die Verhaltensabsichten und Reaktionsweisen der Menschen meines sozialen Umfelds? Wieviel Berechenbarkeit und Vertrauen entsteht dadurch? 

Antizipieren von Belohnung: Mit welchen sozialen Belohnungen für umwelt- und klimafreundliches Verhalten kann ich rechnen? 

 

Verinnerlichung von Werten: Bestätigung von wertegebundenen Verhaltensweisen in meinem sozialen Umfeld

 

 

Kognitive Kontrolle: Ausmaß der individuellen Selbstwirksamkeitserwartung (Glauben an die eigene Kompetenz und Handlungseffizienz)

Neuronale „Orte“

 

 

Ventromedialer präfrontaler Kortex,

Hippocampus, parahippocampaler Kortex

 

Dorsolateraler präfrontaler Kortex, posteriorer Parietalkortex

 

 

Amygdala, Insula, ventromedialer präfrontaler Kortex, Striatum

 

 

 

 

Temporoparietaler Übergang, posteriorer cingulärer Kortex, medialer präfrontaler Kortex

 

 

 

 

 

Ventrales Striatum, ventromedialer präfrontaler Kortex, Amygdala, medialer orbitofrontaler Kortex

 

 

Medialer präfrontaler Kortex, ventrales Striatum, anteriorer cingulärer Kortex, Insula

 

 

 

Dorsolateraler präfrontaler Kortex, anteriorer cingulärer Kortex, Parietallappen


Die Neurowissenschaftler verbinden mit dieser Zusammenstellung die Hoffnung, dass „Hirnstimulationstechniken es Forschern ermöglichen, psychologische Modelle nachhaltiger Entscheidungsfindung kausal zu testen, indem sie die zugrunde liegenden neurokognitiven Prozesse experimentell manipulieren“. Die Hirnforschung könnte auf diese Weise Anleitungen liefern, wie wir unsere Gehirne direkter und gezielter trainieren können, um Verhalten zu verstärken, das Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz besser Rechnung trägt

 

Neben dieser Option von „Gehirn an Umwelt“ gibt es, worauf die Autoren von „Leveraging neuroscience for climate change research“ ebenfalls hinweisen, auch die umgekehrte Beziehung „Umwelt an Gehirn“. Im Negativen zählen dazu z.B. die Befunde von Umwelt-Epidemiologen, die nahelegen, dass hohe Feinstaubkonzentrationen das Gehirn schädigen können. 

 

Positiv hingegen sind Zusammenhänge zwischen Naturkontakt/Bewegung im Grünen und der Gehirnleistung: „Bedingungen unserer Umwelt wie der Zugang zu Grünflächen oder andere Aspekte der Stadtentwicklung wirken sich auf Gehirn und Psyche aus. Die Begrenzung der Zeit, die man im Freien verbringt, kann schädliche Auswirkungen auf das Gehirn haben“, stellen Kimberley Doell und das Autorenteam fest. So reduzierte in Untersuchungen ein 60-minütiger Spaziergang in einer grünen Waldumgebung die stressbedingte Aktivität in der Amygdala signifikant im Vergleich zu einem Spaziergang in einer städtischen Umgebung. Außerdem hätten „psychologische Untersuchungen darüber hinaus herausgefunden, dass ein verstärkter Kontakt mit der Natur und Grünflächen mit einem umweltfreundlicheren Verhalten einhergeht.“

 

Aus Sicht der Neurowissenschaft mag es nachvollziehbar sein, dass die Forscher aus solchen Erkenntnissen das Interesse ableiten, diese positiven Wirkungen des Naturkontakts noch effizienter zu gestalten, indem man die Wirkung auf das Gehirn noch direkter und unmittelbarer erzeugt – nämlich „mit alternativen Strategien, die in Innenräumen umgesetzt werden können, wie z. B. die Exposition gegenüber Pflanzen oder Tieren oder immersive virtuelle Naturszenarien“.  Ob wir mit der VR-Brille vor den Augen im Lehnsessel zuhause den virtuellen Naturkontakt tatsächlich der körperlichen Bewegung in realen Naturräumen vorziehen sollten? Es hängt am Gehirn ja doch noch ein ganzer Körper mit seinen motorischen und sensitiven Funktionen und Bedürfnissen. Und auch das Gehirn braucht wahrscheinlich mehr als den virtuellen Kontakt mit der Außenwelt, um seine „halluzinatorischen“ Fähigkeiten zu trainieren.

Aktiv zuhören heißt - unterbrechen

September 2023

Den anderen „ausreden“ zu lassen und ihm zuzuhören, bis er oder sie mal einen Punkt macht, gilt immer noch als wenigstens höfliches Erfordernis der Kommunikation, oft sogar als Beleg dafür, dass man besonders achtsam und respektvoll ist. Jemandem „ins Wort zu fallen“, wird sanktioniert, und wer so etwas öfter macht, gilt als schlechte/r Zuhörer/in. Das Gegenteil ist der Fall!

 

Immer noch scheint in der Vorstellung vieler Kommunikation nach dem klassischen Sender-Empfänger-Modell zu funktionieren. Der/die eine sendet, der/die andere empfängt das Gesendete. Und der Zweck der Übung, so wird unterstellt, bestehe darin, das Gesendete möglichst 1:1 beim Empfangenden loszuwerden. Und wenn letzterer bestätigt, dass es angekommen ist, dann „versteht“ man sich. Tatsächlich ist dieses Bemühen um das Gehört-Werden noch lange nicht Kommunikation. Die beginnt erst, wenn der Sender sich dafür interessiert, was beim Empfänger überhaupt ankommt – wo es eine Resonanz gibt und wie der Empfänger das Gesendete aus seiner Sicht versteht oder nicht versteht. Das heißt: Kommunikation ist Differenzerfahrung und setzt das Interesse und die Bereitschaft beim Sender voraus, sich damit zu beschäftigen, was beim Empfänger vor sich geht, wenn er mir zuhört.

Oft bemüht sich der Sender, durch Nachdruck, Wiederholungen und eben dieses eingangs erwähnte „Ausreden-wollen“ sicherzustellen, dass der Empfänger das Gesendete genauso interpretiert, wie der Sender das meint. So als ob man sich erst dann versteht, wenn man die Welt aus denselben Augen zu sehen imstande ist wie das Gegenüber. Da das jedoch grundsätzlich nicht möglich ist, wird diese Art des Kommunizierens, das nur auf Selbstbestätigung hinausläuft, kein Mehr an gegenseitigem Austausch und Verstehen erzeugen. 

 

Viele arbeiten hart daran, sicherstellen zu wollen, dass die anderen und die Außenwelt einen selbst und die Welt genauso so sehen, wie man das selbst tut. Dabei wäre es viel interessanter und würde mir mehr über mich selbst und die anderen verraten, wenn ich mich für die Unterschiede interessiere. 

 

Das Pochen darauf, „ausreden“ zu können, verschließt mir dagegen diese Perspektiven. Wenn mich jemand unterbricht und an einem Punkt einhakt, wo es auch für ihn bedeutsam zu sein scheint, erfahre ich doch viel mehr über mich und den anderen, denn genau an dieser Stelle begänne das Verbindende. Kommunikation entsteht aus der Diversität der Kommunizierenden – und damit vergrößern wir die Welt. In unseren Trainings zur Veränderungsmoderation trainieren wir genau dies: Aktiv zuhören heißt unterbrechen.

Think negative!

Juli 2023

Das „gute Leben für alle“ gilt heute im Zeichen der „Agenda 2030“ als das ultimative Ziel all dessen, was durch eine „nachhaltige Entwicklung“ der Welt erreicht werden solle. Bis zum Jahr 2030 wolle man „alles aus dem Plan fertig haben“, heißt es zuversichtlich und in leichter Sprache auf der Website der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.. Und das Institute for Multi-Level Governance and Development der Wirtschaftsuniversität Wien konkretisiert diese Zielvorstellung des guten Lebens für alle „als Zeitwohlstand, als florierende Nahversorgung, gutes Essen und reduzierten Mobilitätszwang“. 

 

Ist es wirklich das, was die Menschen weltweit motiviert? Der Managementberater Reinhard K. Sprenger ist skeptisch. In einem Beitrag mit dem Titel „Die positive Kraft des negativen Denkens“ schreibt er: „Wenn man mit Menschen spricht, bin ich immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich sie ihr Leben gestalten. Der eine sucht Geld, der andere Freizeit, der eine soziale Bedeutung, der andere friedvollen Rückzug. Letztlich weiß niemand, was in einem absoluten Sinne gut, richtig und wahr ist“ („Gehirnwäsche trage ich nicht“, Campus, 2023). Wie kommen wir also dazu, unter dem Ethos-Label „Nachhaltigkeit“ ein einheitliches Lebensglück und -ziel für alle zu postulieren?

 

Tatsächlich fällt auf, dass in der emotionalen Ausstattung des Menschen die „negativen“ Gefühle die „positiven“ bei weitem dominieren. So beschreibt der Begründer der integrativen kognitiven Verhaltenstherapie, Harlich Stavemann, den Kreis der menschlichen Grundgefühle mit sechs „negativen“ und nur zwei „positiven“ Gefühlen: Trauer, Ärger, Angst, Niedergeschlagenheit, Scham und Abneigung stehen Freude und Zuneigung gegenüber Wir scheinen als Spezies also eher darauf programmiert zu sein, negative und bedrohliche Zustände wahrzunehmen. Warum ist das so? Die Antwort gibt die Psychologin Fanny Jimenez, sie „liegt in der überaus wichtigen Funktion, die Emotionen für den Menschen haben. Positive Gefühle sind zwar schöner, negative aber sichern das Überleben. Denn sie liefern eine blitzschnelle Einschätzung der Lage und bereiten die Reaktion auf sie vor: ob man von Freunden oder Feinden umgeben ist, ungerecht oder gerecht behandelt wird, oder ob etwas gefährlich ist oder nicht.“

Und weil das so ist, scheint es uns auch viel leichter zu fallen, uns darüber zu verständigen, was wir nicht wollen. Reinhard Sprenger plädiert aus diesem Grund für das negative Denken: „Was ist das, was du nicht willst? Darüber sind sich die meisten Menschen schnell einig… Und es sind nur wenige Dinge: körperliche Gewalt etwa, Krankheit, Krieg. Die negative Reziprozität ist als bescheiden, sie will Schlimmes abwenden. Es biegt jedenfalls nicht ab ins allgemein Wünschbare.“ Sprenger hält die Perspektive auf das Negative, das zu Vermeidende deshalb am besten geeignet, „als ein moralischer Universalkonsens anerkannt zu werden“, denn darauf könne „sich selbst eine heterogene Gesellschaft einigen“. 

 

Wäre es also nicht sehr viel produktiver, wir würden uns anstelle der ständigen Neuauflagen von „Purpose“ gesättigter, alle beglückender Menschheitsziele und Nachhaltigkeitspostulate auf eine „negative Ethik“ verständigen, die kein Ziel hat außer dem, konkret absehbaren Schaden zu vermeiden? Und ansonsten die Menschen machen lassen, wie sie wollen? Eine solche Ethik möchte, wie Sprenger feststellt, „keinen Endzustand erreichen, kein Paradies auf Erden.“ Pandemie, Ukraine-Krieg, Energieprobleme und die geopolitischen Umbrüche dürften uns inzwischen ja auch zusätzlich geholfen haben, aus naiven Träumereien aufzuwachen.

 

Spannend ist, dass „Think negative!“ inzwischen auch in der Managementpraxis, in der Teamführung und in der Moderation von Entscheidungsprozessen angekommen ist. Die Orientierung auf Widerstände (was die Menschen nicht wollen) anstatt auf Zielverheißungen, die im „systemischen Konsensieren“ erfolgreich praktiziert wird, etabliert sich zunehmend und führt zu besserer Team-Perfomance.


Dieser Beitrag ist auch als Kommentar im forum Nachhaltig Wirtschaften erschienen.

Wolfgang Haber hat unseren Blogbeitrag kommentiert:

 

"Ich gebe Ihnen völlig recht, dass "Think negative" der viel besser geeignete Ansatz zur Erreichung von Nachhaltigkeit im Rahmen der menschlichen Denk- und Handlungs- sowie Gefühlsvielfalt ist. Der im Naturschutz eingebürgerte Begriff der "biologischen Vielfalt" ist ja nicht nur die Vielfalt der Arten und Ökosysteme, sondern ein Kennzeichen jeglichen Lebens, genauso wie Stoffwechsel und Fortpflanzung. Leben ist Vielfalt, und das gilt nicht nur für die nichtmenschlichen Lebewesen, sondern genauso für die Menschen mit ihrer Vielfalt von Interessen, Meinungen, Standpunkten, Handlungsweisen, Lebensgestaltungen, oft mit stetem Wechsel verbunden. Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen für eine erfolgreiche weitere rationale Arbeit!"

 

Wolfgang Haber ist der Doyen der deutschen wissenschaftlichen Ökologie. Als Wissenschaftler und Berater hat er über lange Jahre hinweg die deutsche Umwelt und Naturschutzpolitik wesentlich geprägt. Er half unter anderem mit, die ersten deutschen Nationalparks zu etablieren und war 1993 erster Träger des Deutschen Umweltpreises der Deutschen Bundesstiftung Umwelt.

Gesundheit ist nicht der Krieg gegen die Krankheit. Wie die Corona-Pandemie zu einem besseren Verständnis in der Medizin beitragen kann

Juni 2022

Nach zwei Jahren Pandemiegeschehen ist die Zeit reif für eine wissenschafts- und medizintheoretische Reflektion. Jetzt müsste es möglich sein, kritisch auf die grundlegenden Denkmuster und Paradigma zu einzugehen, die die Pandemiepolitik bestimmt haben, ohne gleich zwischen die Fronten von Querdenkern und Virologen zu geraten. Tristan Nolting hat in seiner Masterarbeit „COVID-19 aus biopsychosozialer Perspektive“ diesen Versuch gewagt. Seine „Analyse der Pandemie in Deutschland“ ist soeben im Tectum Verlag erschienen und dadurch einer größeren Öffentlichkeit zugänglich*.

 

Nolting nutzt die Analyse der Corona-Episode, um Argumente für die Erweiterung der naturwissenschaftlich biomedizinischen Sichtweise in Richtung auf ein „biopsychosoziales Krankheitsmodell“ (BPSK) zu finden. Vereinfacht kann man sagen, dass das in der Pandemiebekämpfung bisher dominierende biomedizinische Modell das SARS-CoV-2-Virus als gefährlichen Aggressor begreift, den es zu bekämpfen und besiegen, am besten auszurotten gilt. Mangels medikamentöser Optionen dabei nicht-pharmakologische Interventionen (NPI) wie Lockdown, Masken- und Testpflicht, Quarantäneanordnungen etc. im Vordergrund, später kamen Impfungen hinzu. Der Mensch wurde dabei reduziert auf seine Funktion als Krankheitsüberträger, der im Grunde selbst hilflos sich nur durch Anpassung an die „Corona-Regeln“ richtig verhalten und schützen konnte.

Aus Sicht des ganzheitlicheren biopsychosozialen Konzepts sind es zwei wesentliche Aspekte, die bei dieser Form der Virenbekämpfung aus dem Blick geraten und dadurch selbst gesundheitlich kontraproduktive Wirkungen erzeugen:

  • Der eine Aspekt betrifft das Verhältnis zwischen Gesundheit und Krankheit bzw. Mensch und Virus. Vorherrschend ist häufig immer noch ein dichotomisches Modell, wonach Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit ist. Dass es sich jedoch mehr um ein Kontinuum zwischen zwei Polen handelt, macht z.B. die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) deutlich: „Gesundheit ist ein positiver funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen biopsychologischen Gleichgewichtszustandes, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss.“ Wer Gesundheit so definiert, erkennt an, dass Viren oder Bakterien nicht einfach nur „unsichtbare Feinde“ sind, sondern dass „die Entwicklung des menschlichen Immunsystems evolutionär auf Viren und Mikroorganismen angewiesen ist“.  Wir haben es also mit einem ständigen wechselseitigen Anpassungsprozess zu tun, der unser Immunsystem fordert und fördert. Aus dieser Perspektive stünde nicht der Kampf gegen ein Virus im Vordergrund der Gesundheitspolitik, sondern die Stärkung unseres Immunsystems und gesundheitsfördernder Verhaltensweisen.
  • Die Reduzierung der Pandemiepolitik auf die rein virologische Perspektive ignoriert die psychischen und sozialen Bedingungen von Gesundheit und nimmt ein möglicherweise sehr hohes Maß an gesundheitlichen Kollateralschäden in Kauf. Nolting referiert: „Diverse Forschergruppen kommen inzwischen auch zu dem Schluss, dass NPI wie Lockdowns und Kontaktbeschränkungen in Deutschland vermehrt zu Gewalt, Angst, Distress, depressiven Symptomen, verringerter Autonomie, verminderter Beziehungsqualität und allgemein schlechterer mentaler Gesundheit, insbesondere auch bei Kindern und Jugendlichen beigetragen haben.“ Chronische Angst führt zu psychosomatischen Problemen und schwächt das Immunsystem. Letztlich kann uns jedoch nur unser Immunsystem gegen Viren, also auch das Coronavirus, schützen. 

Der biopsychosoziale Blick auf die Pandemie könnte uns eine ganzheitlichere Einschätzung der Risiken ermöglichen und aus dem Panikmodus herausführen. Denn einerseits würden wir dann die NPI sorgfältiger abwägen und auf ihre gesundheitlichen Nebenwirkungen hin überprüfen. Und zum anderen würden wir sehr viel stärker auf das Verantwortungsbewusstsein, die Eigenaktivität und Kooperation der Menschen setzen anstatt auf medial inszenierte Schockwirkungen und existenzielle Urängste. Unser täglich praktizierter Lebensstil (Bewegung, Ernährung etc.) entscheidet in einem wesentlich höheren Maß darüber, wie gesund und widerstandsfähig wir sind, als das Befolgen von Maskenpflichten und Abstandsregeln.

 

* Tristan Nölting, COVID-19 aus biopsychosozialer Perspektive. Eine Analyse der Pandemie in Deutschland, Tectum Verlag, 2022, 84 S., EUR 26,00

Nach Corona zurück ins 19. Jahrhundert? Welche Lehren wir leider nicht ziehen

Oktober 2021

Die Coronavirus-Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie verletzlich unsere Zivilisation ist. Normalerweise leben wir im Gefühl großer Sicherheit und vertrauen auf die Stabilität unserer Lebensverhältnisse. Dass ein Virus das öffentliche Leben fast zum Stillstand bringen kann, ist für uns eine neue Erfahrung. Dass wir so schnell als möglich zum früheren Zustand zurückkehren wollen, ist verständlich. Für den Tierarzt Rupert Ebner liegt darin jedoch ein Problem. Denn Corona müsse uns aufrütteln, schreiben Ebner und die Ko-Autorin Eva Rosenkranz in ihrem Buch über die Risiken des Antibiotika-Einsatzes in der Massentierhaltung („Pillen vor die Säue“, oekom-Verlag, 249 S., EUR 20,00). 

 

Ebner, der eine Praxis als Veterinär hat und Umwelt- und Gesundheitsreferent im bayerischen Ingolstadt war, konfrontiert uns mit dem Risiko, in ein „postantibiotisches“ Zeitalter zu schlittern, in dem Menschen wieder an Zahnentzündungen oder Blasenentzündungen sterben werden, weil die vermeintliche Wunderwaffe „Antibiotika“ stumpf geworden ist. Den Grund dafür sieht er in der Entwicklung von Resistenzen, die bakterielle Angreifer unempfindlich gegen Penicillin & Co. machen könnten – und zwar „innerhalb weniger Jahrzehnte“. Die Ursachen sind vielschichtig, aber letztendlich liegen sie in einem Systemproblem unserer Gesundheits- und Lebensmittelwirtschaft und in einer immer dichter besiedelten und mobilen Welt.

Neben einer unverantwortlichen Verschreibungspraxis im humanmedizinischen Anwendungssektor sei es vor allem der Antibiotika-Einsatz in der Massentierhaltung, die der Bildung multiresistenter Keime Vorschub leistet, beklagt Ebner. Der enorme Produktions- und Effizienzdruck auf der Fleischwirtschaft führte in den 1970er Jahren dazu, dass Antibiotika in großem Stil prophylaktisch eingesetzt und dem Tierfutter beigemischt wurden. Diese Praxis wird zwar EU-weit ab 2022 verboten sein, aber damit wird die massenhafte Antibiotika-Anwendung noch nicht beendet. Denn nach wie vor werden ganze Tierbestände mit Antibiotika behandelt, sobald ein einzelnes Tier Krankheitssymptome zeigt. Man nennt das dann nicht Prophylaxe, sondern Metaphylaxe – was Rupert Ebner wie ein Etikettenschwindel vorkommt. 

 

Besonders kritisch sieht der Tierarzt, der politisch bei den GRÜNEN engagiert ist, den Einsatz sogenannter Reserve-Antibiotika in der Tiermast. Diese Antibiotika sollen nur bei Infektionen mit resistenten Erregern eingesetzt werden und nicht zur Therapie einfacher Infektionen. Damit wird einer weiteren Resistenzbildung entgegen gewirkt. Allerdings gibt es derzeit Auseinandersetzungen zwischen dem Bundeslandwirtschaftsministerium und den Geflügelmästern, die nicht auf den Einsatz des Reserve-Antibiotikums Colistin verzichten möchten. Leider wurde jüngst auch auf EU-Ebene das von der Weltgesundheitsorganisation schon seit langem geforderte Verbot des Einsatzes von Reserve-Antibiotika in der Veterinärmedizin abgeblockt, so dass Reserveantibiotika in der Tiermast weiterhin erlaubt bleiben.

 

Natürlich ist den Autoren von „Pillen vor die Säue“ bewusst, dass wirtschaftliche Interessen und der Einfluss von Lobbyisten hinter solchen fatalen Entscheidungen stehen. Angesichts des Risikos, dass wir in absehbarer Zeit als Menschheit bereits hilflos neuen (und auch alten) Krankheitserregern und Zoonosen (dem Überspringen von Viren oder Bakterien von tierischen Wirten auf Menschen) ausgesetzt sein könnten, fragen sie sich aber: „Warum fürchten wir uns trotz allem so wenig?“ Ebner und Rosenkranz verweisen darauf, dass schon heute jedes Jahr 700 000 Menschen weltweit infolge einer Antibiotikaresistenz sterben. Sie stellen auch fest, dass Italien, das vor allem in der ersten Welle besonders hart von der Corona-Pandemie betroffen war, einen sehr hohen Prozentsatz von Patienten mit Antibiotika-Resistenzen verzeichnet – 26,8 Prozent im Vergleich zu Deutschland mit 0,4 Prozent. 

Offenbar durchschauen noch viel zu wenige – Fachleute ebenso wie Verbraucher, Landwirte genauso wie Tierärzte – die komplexeren Zusammenhänge des mit dem Antibiotika-Einsatz zusammenhängenden Systemproblems. Gut möglich, dass auch viele immer noch der jahrzehntelang währenden Hoffnung anhängen, mit Hilfe von Antibiotika die Infektionskrankheiten dauerhaft besiegen zu können. Rupert Ebner desillusioniert diese Hoffnung: „Je mehr Antibiotika, desto mehr Resistenzen. Je mehr Angriff, umso mehr Verteidigung. Man könnte auch sagen: Der Selektionsdruck wird durch jede Antibiotikagabe erhöht. So zwingen wir der Resistenzentwicklung in den letzten Jahrzehnten ein beispielloses Tempo auf, eine Art ‚Evolution im Zeitraffer‘.“

 

Wir werden dieses Rennen nicht gewinnen können. Also werden wir früher oder später die industrielle Massentierhaltung aufgeben müssen. Je früher wir damit anfangen, desto größer ist unsere Chance, nicht in ein präantibiotisches 19.  Jahrhundert zurückzufallen.

Wie nachhaltig ist resilient?

September 2021

Resilienz ist in der Psychologie ursprünglich als Persönlichkeitseigenschaft von Kindern und Jugendlichen beschrieben worden, die unter schädlichen Umfeldbedingungen weniger litten und traumatisiert wurden als andere. In der Folge wurden psychologische Programme entwickelt, um entsprechende Eigenschaften und Verhaltensweisen gezielt zu fördern. Längst ist das Konzept in die allgemeine psychologische Lebensberatung eingewandert und hat eine Flut von Ratgeber-Literatur und Trainingsprogrammen ausgelöst. So weit ist die Karriere des Resilienz-Konzepts sachlich nachvollziehbar. Aber wieso ist „Resilienz inzwischen zu einer machtvollen Leitorientierung“ in der gesellschaftspolitischen Sphäre geworden, die sogar das Zauberwort „Nachhaltigkeit“ ablöst? Die Soziologinnen Karina Becker und Stefanie Graefe untersuchen diese Frage in dem von ihnen herausgegebenen Band 4 aus der Bibliothek der Alternativen (oekom verlag, 2021) unter dem Titel „Mit Resilienz durch die Krise?“

 

Die nächstliegende Antwort liegt in der Vagheit des Begriffs: „Resilienz ist ein Krisenbewältigungskonzept, das hinreichend unbestimmt ist, um sich auf unterschiedlichen Feldern als attraktives Lösungsangebot in Stellung zu bringen.“ (S. 8) Diese Erklärung reicht aber natürlich nicht aus. Noch am ehesten nachvollziehbar ist die Übertragung des Resilienz-Begriffs auf die Arbeitswelt. Dort nehmen die Anforderungen an die psychische Belastbarkeit anscheinend zu, werden Flexibilität und Veränderungsbereitschaft mehr denn je gefordert. Der soziologische Hintergrund dieser Entwicklung liegt in der postfordistischen Arbeitsgesellschaft: Hier „werden Arbeitende als Subjekt begriffen“, die ihre Persönlichkeit, Emotionalität, Motivationskraft in die Erfüllung ihrer beruflichen Aufgaben einbringen sollen. Die Psychologie des Mitarbeiters ist nicht länger ein zu eliminierender Störfaktor im betrieblichen Ablauf, im Gegenteil sichert sie das Commitment. Psychische Belastbarkeit wird so zum Schlüsselfaktor der Performance. Dementsprechend kommt „vor allem diejenige betriebliche Gesundheitsförderung verstärkt zum Einsatz, die in erster Linie auf verhaltenspräventive Maßnahmen setzt und dabei zugleich an die Eigenverantwortung der Beschäftigten appelliert“. (S. 66) 

 

Schon an dieser Stelle werden die diskursiven Schemata sichtbar, die die Auseinandersetzung mit der gesellschaftspolitischen Dimension des Resilienz-Konzepts kennzeichnen. Während man die verhaltenspräventive Verantwortung des Einzelnen und den Aufbau resilienter psychischer Kompetenzen für einen humanen Fortschritt halten kann, können andererseits die Schattenseiten dieser Entwicklung darin gesehen werden, dass das marktzentrierte System auf diese Weise den psychischen Druck auf die Beschäftigten erhöht und die Notwendigkeit „verhältnispräventiver“ Verbesserungen (also Änderungen der Arbeitsbedingungen) ausgeblendet wird. Am Beispiel der psychosozialen Belastungen für die Beschäftigten im Krankenhaus problematisiert Karin Becker diese Schattenseite des Resilienz-Konzepts.

Nach demselben Argumentationsmuster lässt sich die Übernahme des Resilienz-Konzepts in der Entwicklungszusammenarbeit bewerten. Usche Merk weist in einem Beitrag zu den Sammelband von Becker und Graefe darauf hin, dass der Paradigmenwechsel von der Defizit- hin zur Ressourcenorientierung in der humanitären Hilfe weit fortgeschritten ist. Das hat zwei Seiten: „Auf diese Weisen werden zwar einerseits lokale Ressourcen und Bewältigungskompetenzen besser wahrgenommen. Andererseits aber geraten die spezifischen problemverursachenden Katastrophen und Krisen selbst … samt ihren komplexen Ursachen aus dem Blick.“ (S. 95) In dem Maße, wie Nachhaltigkeit als Leitorientierung immer mehr von Resilienz abgelöst werde, werde der Versuch, die Welt (wieder) ins Gleichgewicht zu bringen, durch die bloße Suche nach Coping-Strategien abgelöst, die uns helfen, mit einer unausgeglichenen, ungerechten und prekären Welt besser klarzukommen. Die Vulnerabilität von Bevölkerungsgruppen werde in den Fokus genommen, ohne dass man sie als Ergebnis von Macht- und Herrschaftsverhältnissen begreife. Man doktere also an Symptomen herum, ohne die Ursache zu beseitigen. Das derzeit zunehmende privatwirtschaftliche Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit und bei der Katastrophenvorsorge sei Ausdruck dieses systemerhaltenden Rückschritts zu einer Resilienzpolitik. 

 

Die Frage, wie sich die große „gesamtgesellschaftliche“ Perspektive und die institutionellen und strukturellen Bedingungen zur Lebensrealität der Individuen und Gruppen verhalten und wo Veränderungen und Fortschritt ansetzen müssen, auf der Mikro- oder auf der Makroebene, im „System“ oder auf der Verhaltensebene, steht letztlich auch hinter den Diskursmustern des hier rezensierten Sammelbandes, dessen Beiträge alle eine Antwort suchen auf die Frage: Taugt das Resilienz-Konzept für die gesellschaftspolitische Diskussion? Von Matthias Groß und Jörg Oberthür kommen dazu entscheidende Hinweise, die erstaunlicherweise auf die Ursprünge der Soziologie zurückführen. Groß bringt mit Auguste Comte (1798-1857) den Namensgeber der Soziologie ins Spiel. Comte wies darauf hin, dass „Fortschritt“ und „Ordnung“ zwar Gegensätze, aber für die gesellschaftliche Entwicklung keine unvereinbaren Pole seien. Gesellschaftliche Ordnung, also Struktur, Herrschaftsverhältnisse, Institutionen etc., entstünden nur aus Fortschrittsdynamiken, genauso wie der Fortschritt immer auf politische und soziale Ordnungsmuster ziele.  Emile Durkheim (1858-1917), Begründer der akademischen und empirischen Soziologie, beschäftigte sich mit Krisenphänomenen moderner Gesellschaften. Er wird in dem Sammelband von Jürg Oberthür als Beleg dafür herangezogen, dass „schon in der Gründungsphase der Soziologie der Anspruch individueller Freiheit in der Theorie so (re-)formuliert wurde, dass er nicht in einen Gegensatz zur institutionellen Ordnung geriet, sondern als deren Funktionsvoraussetzung begriffen werden konnte“. (S. 42) Was nicht auf ein harmonisierendes Gesellschaftsmodell hinausläuft, worauf Oberthür explizit hinweist, wenn er betont, dass von Durkheim „ein gewisses Maß an Reibung zwischen Individuen und institutionellen Strukturen als für moderne dynamisierte Gesellschaften unvermeidbar angenommen wird, womit auch Leidenserfahrungen gewissermaßen zum Dauerzustand werden“. (S. 43)

 

Es wäre also vielleicht gar nicht nötig, zwischen „Nachhaltigkeit“ als der erwünschten neuen Ordnung der Welt und „Resilienz“ als der Antwort auf das individuelle Leiden an gesellschaftlichen Zuständen einen absoluten Gegensatz zu errichten und das eine gegen das andere auszuspielen. Denn wir Lebenden sind darauf angewiesen, herauszufinden, was wir für unser individuelles Überleben und unser Lebensglück tun können und was nicht. Wir alle hängen von Dingen ab, die größer sind als wir selbst, und müssen ständig beurteilen, was in unserer Macht liegt und was nicht. Wir müssen uns um unser seelisches Gleichgewicht kümmern und darum, welcher Partei wir bei der nächsten Wahl unsere Stimme geben. Wir haben die Freiheit, uns fit zu halten oder uns schlecht zu ernähren, und wir müssen entscheiden, was wir von der Pandemie-Politik der Regierung halten und ob wir uns impfen lassen wollen, solange wir die Freiheit dazu haben. Wir müssen es aushalten, dass es so viele Optionen für uns gibt, und dass wir doch an so viele Grenzen stoßen.

 

Wir werden weiterleben müssen, auch wenn die Welt (was höchstwahrscheinlich ist) das 1,5-Grad-Ziel nicht erreicht. Dabei kann es uns im globalen Norden durchaus helfen, wenn wir unsere Resilienz trainieren. Anstatt unsere Frustrationsintoleranz (Warum ist die Welt nicht so, wie ich sie haben möchte, verdammt?!) und unsere existenziellen Probleme (Mein Leben ist endlich) auf eine Gesellschaft zu projizieren, die sich auch weiterhin durch Krisen entwickeln wird. 

 

Stefanie Graefe/Karina Becker (Hrsg.), Mit Resilienz durch die Krise? Anmerkungen zu einem gefragten Konzept, oekom verlag, 2021, 139 S., EUR 22,00

Die psychologische Wende der Nachhaltigkeit

Januar 2021

In unseren Trainingsseminaren zur „Veränderungsmoderation“ bekommen die Teilnehmer/innen u.a. eine Teamaufgabe gestellt, die auf John Kotters Parabel „Das Pinguin-Prinzip“ basiert. Jede/r bekommt auf Kärtchen zwei oder drei Fragmente der Story und die Gruppe soll darauf aufbauend eine „spannende Geschichte“ konstruieren und sie dem Seminarleiter erzählen. Den Ausgangspunkt der Geschichte finden die Seminarteilnehmer meist sehr schnell: Ein Mitglied einer Pinguinkolonie (der „Wissenschaftler“) entdeckt Hinweise darauf, dass der Eisberg auseinanderzubrechen droht. Es ist jedoch nicht einfach, mit dieser Nachricht zur Führungsebene der Pinguin-Kolonie durchzudringen. Als sich die Nachricht dann aber doch verbreitet, beginnt zunächst eine Phase der Problemverleugnung. Die Diskussionen gehen hin und her, es werden zahlreiche technische Vorschläge gemacht („Wir verkleben die Risse mit Killerwaltran“). In der Kollektivseele der Pinguin-Gemeinde droht das konstitutive Sicherheits-Paradigma „Dieser Eisberg ist unsere Heimat und wird es immer bleiben“ ins Wanken zu geraten. Um die Lösung vorwegzunehmen: Die Pinguin-Kolonie entdeckt für sich eine neue – nomadische – Lebensweise und zieht auf einen neuen Eisberg um. Damit es eine spannende Geschichte wird, müssen die Seminarteilnehmer allerdings zwei entscheidende dramatische Kipppunkte erkennen:

  • Den emotionalen Wendepunkt, der die Kolonie dazu bringt, das Problem wirklich ernst zu nehmen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen („Stellt euch vor, der Eisberg zerbricht mitten im Winter, wenn es dunkel und kalt ist und unsere Kinder noch klein sind. Es wird viele Tote geben.“)
  • Den innovativen Impuls, der bei der Beobachtung der Möwen entsteht – also eher beiläufig und auf keinen Fall als Produkt eines gezielt gemanagten Lösungssuch-Projekts („Wir machen es wie die Möwen, wir ziehen von einem Eisberg zum anderen“).

Die Seminarteilnehmer rezipieren die Parabel mit Recht als Beitrag zum Nachhaltigkeitsdiskurs. Und sie lernen daraus:

  1. Emotion entscheidet über unser Handeln.
  2. Innovation ist keine Fortsetzung des Planbaren.

Auch in den diversen Nachhaltigkeitsdiskursen unserer Zeit steht dieses Learning jedoch noch aus. So steht das Planbare, das Festhalten an der Illusion, alles kontrollieren zu können (auch die Zukunft), immer noch im Zentrum der Bemühungen. Diese Illusion steht hinter der Idee der „Großen Transformation“, die glaubt, aus heutiger Sicht für die ganze Welt entscheiden zu können, „was wachsen soll und was nicht“. Und die viel beschworenen „Sustainable Development Goals“ (SDG) der Vereinten Nationen erwecken den Eindruck, als ob sich die Welt im Systembaukasten von 17 Oberzielen zurechtrütteln ließe, die alle mit hübschen Icons illustriert sind und eine konfliktfreie Vorstellung des Fortschritts transportieren. Dass die in den SDG versammelten Maximalvorstellungen des guten Lebens für alle nicht nur in sich an vielen Stellen widersprüchlich sind, sondern dass ihre sozioökonomische Verwirklichung für demnächst acht Milliarden Menschen den Planeten faktisch ruinieren dürfte, ist ein zwar von prominenter Seite (z.B. durch Ernst Ulrich von Weizsäcker) vorgebrachter Einwand. Welcher uns aber nicht davon abhält, weiter fröhlich mit den SDG-Bauklötzchen zu hantieren und uns nach Belieben aus den verschiedenen Ziele- und Unterziele- und Indikatoren-Schubladen zu bedienen, um unsere Anschlussfähigkeit an den nachhaltigen Mainstream zu belegen.

 

Ähnlich realitätsfremde und überhebliche Vorstellungen finden sich bei Klimaaktivisten, die glauben, man könne mit einem archimedischen Hebel das „ganze System“ einfach verändern, um alle Widersprüche und Probleme aus der Welt zu schaffen („system change not climate change“). Erfreulicherweise stoßen wir neuerdings auf Stimmen, die einen systemischen Blick auf unsere Welt fordern und hinsichtlich hochfliegender Transformationsideen fordern, „dass sich die Akteure von der Idee der Steuerbarkeit von Veränderungsprozessen verabschieden müssen“. Kora Kristof, Leiterin der Grundsatzabteilung im Umweltbundesamt, verlangt den Akteuren der Nachhaltigkeit „eine realistische Einschätzung der Steuerbarkeit von Veränderungsprozessen“ ab, um sie „vor unrealistischen Selbstansprüchen“ zu bewahren.

 

Aus einer philosophischen Sicht kritisiert der Neurobiologe Gerald Hüther das heute grassierende Sicherheits- und Kontrollbedürfnis: „Wenn wir alles im Griff hätten und in der Lage wären, unsere Zukunft tatsächlich so zu gestalten, wie wir sie uns vorstellen und wünschen, wenn wir alles, was künftig geschieht, genau vorhersagen könnten und für alle zu unseren Lebzeiten auftretenden Schwierigkeiten, Problemen und Bedrohungen eine optimale Lösung parat hätten, gäbe es keine Zukunft mehr.“ 

 

Was aber steht dann hinter all diesen Kontroll- und Planungsphantasien, die auch für die Nachhaltigkeitsszene konstitutiv zu sein scheinen? Es kann nur der menschliche Faktor sein, sprich: die Bedingungen unseres geistig-seelischen Daseins. Das ist der Grund, warum wir es für angebracht halten, über eine psychologische Wende der Nachhaltigkeit zu diskutieren. Vielleicht kommen wir so zu einem realitätsnäheren, unaufgeregteren und optimistischeren Verhältnis zur Welt und unseren Möglichkeiten.

 

Tatsächlich finden wir heute zahlreiche Belege, dass die Nachhaltigkeitsszenerie von Angst und Frustrationsintoleranz dominiert ist. Sehen wir uns beispielweise das Gespräch zwischen der Klimaaktivistin Luisa Neubauer und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble an, das DER SPIEGEL in einem Special vom Oktober 2020 dokumentiert.

Angst reduziert die Komplexität der Welt und fokussiert sich auf die eine Ursache des Übels, die Klimakatastrophe. Beinahe so, wie der Herzneurotiker daran glaubt, demnächst am Herzinfarkt zu sterben. Psychologisch sprechen wir hier von einem existenziellen Problem

 

Schäuble: Man kann nicht immer nur eine Sache priorisieren, auch wenn man völlig überzeugt ist, dass man richtigliegt. Politik besteht nicht nur aus einem Thema. Und sie besteht nicht nur aus einer Haltung… Es ist die Pflicht der Politik, darauf hinzuweisen, dass es viele Probleme gibt, nicht nur das eine.

Neubauer: Es ist ein grundsätzlicher Fehler, die Klimakrise als ein Problem unter vielen zu behandeln… Man muss diese existenzielle Krise der Menschheit auch als solche behandeln.

 

Wir nehmen unseren Lebenshorizont als Maßstab und glauben, es läge an uns, die Welt retten zu müssen/zu können. Unsere eigene Lebensangst wird zur Projektion des Untergangs der Welt. Wir sind deshalb auch ungeduldig und wollen schnelle Lösungen, das Bohren dicker Bretter ist uns lästig. Psychologen nennen das ein Frustrationsintoleranz-Problem.

 

Neubauer: Auf jeden Fall ändert sich die Gesellschaft zu langsam, gemessen am Klimaschutzabkommen von Paris und den wissenschaftlichen Erkenntnissen.

 

Schäuble: In der Analyse bin ich wahrscheinlich näher bei Ihnen, als Sie vermuten. In der Frage, wie man das Problem löst, bin ich skeptischer als Sie, weil … ich weiß, wie schwierig es ist, schon national Änderungen durchzusetzen. Aber wenn ich vor der Alternative stehe, etwas schnell oder langsam durchzusetzen, bin ich eher für langsam. Denn der Preis für schnelles Handeln ist der Verlust der Freiheit.

 

Die anderen sollen sich nach unseren Wertvorstellungen und unserem Geschmack richten, weil wir im Besitz der wissenschaftlich fundierten Wahrheit sind. Psychologen nennen auch das ein – etwas anders gelagertes – Problem der Frustrationsintoleranz.

 

Neubauer: Wir erleben zum ersten Mal eine planetare Krise in diesem Ausma0, in der selbst die schönsten Worte nicht helfen, weil sich die Physik davon nicht beeindrucken lässt… Wir müssen Gesellschafts- und Wohlstandsmodelle entwickeln, die weltweit auf Dauer funktionieren können.

 

Schäuble: Es reicht aber trotzdem nicht, dass Wissenschaftler oder engagierte junge Leute das feststellen. Demokratisch kann man nur etwas ändern, wenn man Mehrheiten gewinnt.

 

Was wären, kurzgefasst, Auswege aus der dysfunktionalen Idee, die Welt retten zu müssen bzw. den Untergang zu erwarten? Drei Vorschläge:

  1. Die Grenzen unseres Menschseins akzeptieren. Also sich damit zu befassen, was unsere psychischen Bedürfnisse sind – und sie von der Welt um uns herum zu unterscheiden. Tatsächlich sind es ja nicht äußeren Dinge, die uns Angst machen, sondern immer „nur“  unsere eigene Verarbeitung und Bewertung der in uns erzeugten „Arousals“, die wir minimieren oder verstärken können. Die Beschäftigung  mit der konstruktivistischen Erkenntnistheorie kann uns dabei helfen, zu erkennen, in welchem Maße wir selbst unsere Realität erschaffen. 
  2. Unser Handeln auf eine empirische Basis stellen – statt sich mit symbolpolitischen und ideologischen Debatten aufzuhalten. Wer sein Denken über die Welt nicht mit der Welt selbst verwechselt, wird seinen eigenen Urteilen und Wahrheiten gegenüber skeptischer werden. Ist das wirklich für alle so? Und ist es immer so? Wie weit reicht meine Macht und Verantwortung tatsächlich? Was kann ich praktisch tun, um nach meinen Vorstellungen zu leben? Und welche Vorstellungen anderer muss ich einfach gelten lassen?   
  3. Das prinzipiell Unentscheidbare aushalten. Wolfram Stierle nennt dies „Ambivalenzkompetenz“. Im Zusammenhang mit Entwicklungspolitik verweist er darauf, dass Hilfsprogramme für den globalen Süden die Tendenz haben, „zu korrumpieren und die Eigeninitiative der politisch Verantwortlichen zu unterminieren“. So stellt sich die Frage: „Sollen wir lieber nichts tun als eingreifen? Sollen wir keine Menschenleben retten? Wäre nicht gerade das gefährlich und barbarisch?“ Es gibt keine Garantie dafür, das Richtige zu tun oder das Falsche sein zu lassen. 

Die psychologische Wende der Nachhaltigkeit könnte dazu führen, dass wir unsere völlig übertriebenen Kontrollansprüche an die Welt herunterschrauben und Zukunft als zum größeren Teil unplanbar und unberechenbar begreifen und annehmen. Dass wir erkennen, dass die Erlösungsformel „Nachhaltigkeit“ uns nicht von unseren Zukunftsängsten  befreien kann. 

Klimakrise: Lieber Schuldige suchen statt handeln?

November 2020

„Es geschieht meinem Vater schon recht, wenn ich mir die Hände verfriere!“, sagte der Knabe, „Warum kauft er mir keine Handschuhe?“ Dieses Zitat stammt von dem Schweizer Dichter und Politiker Gottfried Keller (1819-1890). Es dient gewöhnlich dazu, eine Haltung zu decouvrieren, die aus moralischer Entrüstung und Schuldzuschreibung an andere zu einer selbstgefährdenden Passivität und Verantwortungslosigkeit führt. Statt pragmatisch zu handeln und die eigenen Finger vor dem Erfrieren zu schützen, ist es dem zitierten Knaben wichtiger, sein Konzept eigener Unzuständigkeit anklagend vor sich herzutragen.

 

Eine vergleichbare Einstellung finden wir zuweilen auch in der Klimadiskussion unserer Tage wieder. Als jüngst Lorenz Hübner bei einem Autorenabend in der stratum lounge die großangelegten Versuche zur Steppenbegrünung vorstellte, die seit Jahrzehnten in China, der afrikanischen Sahelzone, der Türkei und anderswo stattfinden, kam den Zuhörern der Keller’sche Knabe wieder in den Sinn. Die Erfahrungen mit den „Great Green Wall“-Projekten verliefen nicht überall positiv, aber in Summe zeigen sie, dass sie das Potenzial haben, einen großflächigen, teil-kontinentalen Temperaturrückgang um mehrere Grad sowie die Wolkenbildung und damit eine relevante Erhöhung der Niederschlagsmengen um 100 bis 200 mm zu bewirken. Lorenz Hübner ist überzeugt, dass die Bepflanzungsaktionen, ökologisch durchdacht ausgeführt, ein relevantes Climate Engineering darstellen und eine Möglichkeit darstellen, der Klimakrise global zu begegnen. Überdies haben die Projekte einen hohen sozialen und wirtschaftlichen Nutzen für die in den betreffenden Regionen lebenden Menschen. Von 80 % weniger Starkwindtagen und einer Reduktion der durchschnittlichen Windgeschwindigkeit über dem Boden um 90 % berichtet Hübner. Schon 50 mm mehr oder weniger Niederschlag könnten über Tod oder Leben ganzer Regionen entscheiden.

Doch statt auf Interesse und Zustimmung bei der Klimafraktion zu stoßen, berichtete Hübner vom Gegenteil. So habe z.B. Professor Walter Lucht vom Potsdam Institute for Climate Impact Research (PIK) ablehnend reagiert: „Der Vorschlag beruhe im Grunde darauf, mit hohem Aufwand die hohen Emissionen der Industrieländer durch Kohlenstoff-Senken auszugleichen. Damit lenke er von der dringenderen Aufgabe ab, die Gesellschaft zu entkarbonisieren.“*

 

Das Beispiel zeigt die vorherrschende Ideologisierung der Klimadebatte, die pragmatisches Vorgehen ausblendet, damit nur ja die Schuldfrage nicht relativiert werde. Wie klug das ist, mag man – Gottfried Keller im Ohr – durchaus bezweifeln. Wer sich lieber für pragmatische Schritte entscheidet, bekommt von uns heute drei Optionen:

 

Buch lesen: Lorenz Hübner, „Der grüne Rettungsring“ (oekom-Verlag)

Kontakt aufnehmen mit Lorenz Hübner: L-Huebner@gmx.de

Sich an der Klimawette beteiligen: https://www.dieklimawette.de. 

 

*https://bit.ly/2FERvJw

Folgen wir der Wissenschaft?

August 2020

Wissenschaft soll uns Orientierung geben, sei es beim Klimawandel oder in der Corona-Pandemie. Wie wenig aber naturwissenschaftliche Erkenntnisse tatsächlich Berücksichtigung bei politisch Verantwortlichen und Behörden finden, zeigen die Diskussionen um die Wiederaufnahme des Schulbetriebs inmitten der Corona-Pandemie.

Dass Masken nur auf den Fluren getragen werden sollen, nicht aber in den Klassenräumen lässt sich mit rationalem Denken und dem, was wir über die Rolle von Aerosolen bei der Virenausbreitung wissen, nicht vereinbaren. Denn der flüchtige Kontakt auf dem Flur im Vorübergehen birgt bei weitem nicht das Risikopotential wie das stundenlange Verharren von 20 Schülern und mehr in relativ kleinen Klassenräumen.

 

Man solle eben alle 45 Minuten mal gründlich lüften, bescheidet die Berliner Schulsenatorin die Lehrkräfte. Dabei weiß man aus CO2-Messungen in Klassenräumen, wie schnell sich Schadstoffe in der gemeinsam geteilten Atemluft ausbreiten. Oft sind während der Heizperiode bereits nach einer Viertelstunde Unterricht bedenkliche Werte von über 2.000 ppm CO2 erreicht. Der CO2-Wert kann als Indikator für die Luftqualität dienen und ein Lüftungsmanagement, das zum Ziel hat, den Richtwert von 1.000 ppm nicht allzu lange zu überschreiten, kommt nicht nur einem gesunden Lernklima zugute und vermeidet Müdigkeit und Konzentrationsmangel, sondern sichert auch durch einen optimalen Luftaustausch die wünschenswerte antivirale Hygiene.

„Deutschlands jüngste Energieberater“ von der Schülerfirma energyECO schlugen deshalb vor, die Erfahrungen, die sie mit CO2-Lüftungskampagnen in Schulen gemacht haben, um  die Energieeffizienz durch richtiges Lüften zu fördern, jetzt mit der Anti-Corona-Lufthygiene zu verbinden. Der Clou des Schülervorschlags: Durch relativ kosten-günstige CO2-Messanzeigen Schüler und Lehrkräfte in die Lage zu versetzen, wirklich effektiv zu lüften. Denn am CO2-Messwert kann man ablesen, ob das Lüften wirklich etwas genützt hat und welche Lüftungsmethode etwas bringt. Unterstützung finden sie mit ihrem Vorschlag bei Prof. Martin Kriegel von der TU Berlin, der zu demselben Schluss gelangt ist. Die Vorschläge von energyECO und Kriegel liegen bei der Senatorin auf dem Tisch. Wahrscheinlich wird man darauf ver-weisen, dass für die Messgeräte kein Geld im Haushalt ist. Für 5 Euro pro Schüler könnten sich Schulklassen jedoch selbst helfen und besser schützen als der Staat es tut.

 

www.energyeco.de Website der Schülerfirma

https://bit.ly/39yTJEY Prof. Martin Kriegel

Warum Zumachen so leicht, aber Öffnen so schwer ist

Juni 2020

Eine der Lehren, die wir aus „Corona“ ziehen müssen, lautet: Es ist leicht, einer Gesellschaft den Lockdown zu verordnen, aber es ist ungemein schwieriger, das gesellschaftliche Leben wieder zu öffnen. Warum ist das aber so?

 

Im aktuellen Blog von brandeins befasst sich Wolf Lotter mit dem Unterschied zwischen Komplexität reduzieren und Komplexität erschließen. Dabei stellt er fest: „Je mehr Unsicherheit, Angst und Unvermögen im Umgang mit Komplexität herrscht, desto mehr reden die Leute von Planung, Kontrolle und Gestaltung.“ Das war die Situation zu Beginn der Corona-Krise und so war unser Handeln: Jetzt ging es erst einmal um Kontrolle und ein striktes Maßnahme-Korsett. Die Planung wurde zentralisiert, die politische Exekutive übernahm das Heft des Handelns und die Angst vor der Überlastung des Gesundheitssystems dominierte alles. Differenzierung war nicht mehr möglich, die Bilder aus China und Italien wurden zum Maßstab. Dass die Zustimmungswerte für die Führung in dieser Zeit deutlich anstiegen und viele sich in dieser plötzlich so einfach geregelten Welt merklich wohlfühlten, zeigt, dass die Reduzierung der Komplexität erfolgreich war. Die Welt war einfacher geworden, trotz oder gerade wegen der Bedrohung.

 

Aber unsere Welt ist eben nicht wirklich so einfach und so fällt es ungemein schwer, nach dem Lockdown eine überzeugende Lockerungsstrategie zu entwickeln. Wollten zu Beginn der Pandemie-Krise manche Politiker das Virus noch „stoppen“, merken wir jetzt, dass es in der Welt bleiben wird und unser Leben noch komplexer macht.

 

Aus der Ecke der Digitalisierungselite wird das gefeiert als „der klare Beweis, dass unsere Welt viral gegangen ist. Fast alles ist mit fast allem vernetzt, über Telekommunikation, Handel, Reisen, die globalen Finanzmärkte“. Die Macher des ada-Magazins begrüßen uns nach dem Corona-Schock hymnisch „im viralen Zeitalter. Hier zählt nicht mehr Stabilität, sondern Flexibilität“. Dass wir uns fast alle mehr oder minder erfolgreich und beglückt mit Zoom-Meetings und Webinaren anfreunden, ist das aber wirklich schon die „neue Flexibilität“?

Hören wir noch einmal Wolf Lotter zu, der schreibt: „Soziale Systeme bauen darauf, dass Menschen Entscheidungen treffen und Zusammenhänge herstellen. Sie wählen aus, bewerten. Das ist es, was man unter Vernetzung versteht. Das Netzwerk ist nicht Facebook, das Netzwerk sind wir selbst.“

 

Es wird also nicht die Digitalisierung an sich sein, die uns zu den neuen Menschen macht, die mit Komplexität anders umgehen, als wir es bisher gewohnt waren. Bisher haben wir Komplexität vor allem reduziert. In Zukunft gilt es, sie zu erschließen und zu nutzen.

 

Und dies wird eine Aufgabe für Menschen sein, nicht für Maschinen. Bei stratum hat sich eine kleine Entwicklergruppe aus Trainern und Beratern damit befasst, herauszufinden, was denn die nächste Stufe der Kompetenz wäre, die Unternehmen und Organisationen voranbringt. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es tatsächlich mit dem „Öffnen“ zu tun hat. Öffnen in dem Sinne, dass wir lernen, Kooperationen und Partnerschaften sehr viel stärker in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen. Diejenigen Organisationen, so die Hypothese, werden in Zukunft erfolgreicher sein, die sich nicht gegen die Außenwelt (die „Konkurrenz“) abgrenzen und die eigenen Intentionen gegen Widerstände durchzusetzen versuchen, sondern die ständig auf der Suche sind, sich in Projekten mit verschiedenen Partnern weiterzuentwickeln und die Komplexität des eigenen Systems dadurch zu erhöhen. Nicht die innere Planbarkeit, sondern die Perturbation durch systematisches Auflösen der Außengrenzen wird Unternehmen und Organisationen in der VUCA-Welt bestehen lassen.

 

Mit einem Trainings- und Schulungskonzept zum agilen Kooperationsmanagement („Kooperation 4.0“) will das stratum-Team demnächst herauskommen. Vielleicht erzeugt die Corona-Erfahrung ja ein neues Paradigma im Managementtraining.

Das Virus, das es gar nicht gibt – Anmerkungen zu Corona

März 2020

Was wohl schlimmer sei, das Corona-Virus oder die Angst davor, so fragten wir in einem jüngsten Newsletter. Aufhänger war ein Statement des kanadischen Mediziners Abdu Sharkawy, der erklärt hatte: „Die Corona-Panik ist gefährlicher als das Virus selbst“. Er habe weniger Angst vor Corona als vor dem Verlust der Vernunft: „Was ich fürchte, ist der Verlust der Vernunft und die Welle der Angst, die die Gesellschaft in Panik versetzt und dazu bewegt, obszöne Mengen an Vorräten einzulagern, die einen Luftschutzbunker in einer postapokalyptischen Welt füllen könnten.“

 

Es gab viele Reaktionen auf unseren Newsletter, mehr zustimmende als ablehnende, was an sich schon bemerkenswert ist. Die Zustimmenden zeigten sich z.B. „erschüttert über die überbordende Angst und die freiwillige Aufgabe von Grundrechten“ oder fanden es „wohltuend“, einmal eine andere „Ausrichtung“ der Beschäftigung mit der Virus-Pandemie zu lesen. Die ablehnenden wunderten sich u.a. darüber, den Newsletter-Schreiber „im Lager der Corona-Leugner zu finden“.

 

Kann man Corona wirklich leugnen? Sind die Fakten nicht auf dem Tisch, ähnlich wie beim Klimawandel?

Der französische Wissenschaftshistoriker und -soziologe Bruno Latour („Die Hoffnung der Pandora“) hat die Behauptung aufgestellt, die Mikroben habe es vor Pasteur, der sie bekanntlich entdeckt hat, gar nicht gegeben. Dieser radikal historische Ansatz ist von konstruktivistischen Erkenntnistheoretikern rezipiert worden, die darauf verweisen, dass es für uns gar keine „objektive“ Welt gebe, sondern wir immer darauf angewiesen seien, uns unsere Welt mit den Möglichkeiten unserer Sinne, unseres Gehirns und unserer sozialen Bedingungen selbst zu generieren. Natürlich gibt es außerhalb von uns etwas, aber dieses Etwas entsteht erst, indem aus auf uns stößt und wir daraus eine Realität erzeugen. (Vgl. auch das Buch von Richard Häusler, „Erfundene Umwelt“, oekom, 2004.)

 

Das ist eine verstörende Erkenntnis, weil sie die Spannung zwischen Fakten und Wahrheit erzeugt, in der wir ständig leben und die eine zentrale Herausforderung unserer zivilisatorischen Entwicklung zu sein scheint. Wir mögen Fakten haben, aber damit haben wir noch keine Wahrheit. Um urteilen und handeln zu können, benötigen wir mehr als Fakten – nämlich Motive, Bewertungen, Gefühle, Gemeinschaft etc.

 

Das zeigt sich derzeit kaum besser als in unserer Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie. Auch hier wird die „Wahrheit“ immer erst produziert, die Faktizität des Erregers alleine kann das nicht. Und diese „gemachte“ Wahrheit ist höchst emotional, interessegeleitet und natürlich auch manipulativ. Wenn  das Magazin „Der Spiegel“ den Leiter des Robert-Koch-Instituts in furchteinflößender Pose und vor dämonisch wirkendem Hintergrund mit einem Zitat montiert, das auf Angstmache aus zu sein scheint, dann ist dies der soziale Entstehungsprozess des Virus.

 

Die manipulative Absicht ist in diesem Fall für uns leicht erkennbar, wenngleich sie Wirkung zeigen dürfte. Dass „bis zu zehn Millionen Infizierte“ normal und auch nicht weiter bedrohlich sind, da eine Durchseuchung von 60-70 % der Bevölkerung erwartbar und der Verlauf der Corona-Infektion eher mild ist, geht unter in der Inszenierung.

Weniger offensichtlich, aber ebenso wirksam ist die soziale Produktion von Wirklichkeit im Falle des Corona-Virus, wenn es um den Umgang mit Zahlen geht. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck erklärt die Unterschiede zwischen den Todesraten, die zwischen Deutschland und Italien festgestellt wurden, mit den methodischen Unterschieden beim Zählen: „In Italien hat man nur die sehr schwer symptomatischen Fälle getestet. Dabei hat die aktuelle Studie aus Shenzhen zum Beispiel auch herausgefunden, dass sich Kinder genauso häufig mit dem Erreger anstecken wie Erwachsene, sie entwickeln allerdings nur leichte oder gar keine Symptome. Folgt man der Studie und legt zugrunde, dass 91 Prozent Covid-19 nur mit milden oder moderaten Symptomen durchmachen, dann haben sich die Italiener zunächst nur auf die verbliebenen neun Prozent fokussiert. Hinzu kommt, dass dort auch nachträglich die Toten auf Sars-CoV-2 getestet werden. Auch in China gingen anfangs die Todeszahlen stark in die Höhe, nicht aber die Infektionszahlen, weil man sich dort ebenfalls auf die Toten konzentrierte. Jetzt ist es umgekehrt, weil in China viel mehr getestet wird.“

 

Unser Umgang mit der Corona-Pandemie lässt sich also in keiner Weise auf Basis von „Fakten“ erklären. Die Politik steht vor dem Dilemma, agieren zu müssen, ohne Panik zu erzeugen. Sie muss, das wird auch in Talkshows so zugegeben, unter Unsicherheit entscheiden, also tentativ und möglicherweise sich selbst korrigierend. Auch die Virologen haben Wissenslücken über das Virus. Niemand weiß, wie lange Zeit (Wochen, Monate) z.B. die Strategie des „Flatten the Curve“ wirklich benötigen würde. Dennoch flimmern eindrucksvolle Diagramm-Animationen über die Bildschirme, die beruhigen und motivieren sollen.

 

Das belastet die Menschen, die Gewissheit haben wollen, und ihrer Angst ausgeliefert sind – sozialpsychologisch gesehen also mit „Terror-Management“ (S. Solomon, J. Greenberg, T. Pyszczynski) beschäftigt sind. Tatsächlich geht es zum weitaus größeren Teil wohl gar nicht um die Eindämmung des Virus, sondern um die Interessen und Bedürfnisse all der Akteure, die im Spiel sind. Jeder Akteur hat eine  andere Perspektive und „Wahrheit“. Und in dieser Gemengelage „entsteht“ das Virus erst und immer wieder aufs Neue. Manchmal wirkt das so, als ob es es gar nicht gäbe, sondern nur die ganze Aufregung darum herum.

Nachhaltige Schülerfirmen – Was die Generation Greta anders macht

Februar 2020

Schülerfirmen sind nichts Besonderes mehr in der deutschen Schullandschaft. Auf der JUNIOR-Schülerfirmen-Plattform des Instituts der deutschen Wirtschaft werden aktuell 781 Schülerfirmen verzeichnet, die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung zählt in ihrem Netzwerk 580 Schülerfirmen und im Netzwerk „Nachhaltige Schülerfirmen“ der FU Berlin sind ca. 100 Schülerfirmen angemeldet. Eine Gesamtstatistik wird nirgendwo geführt, da Schülerfirmen sich nicht ins Handelsregister eintragen müssen und oft keine dauerhafte Geschäftstätigkeit entwickeln. Die Grundidee, die in den 90er Jahren entstand, richtete sich ja auch primär auf die Vermittlung von ökonomischem und betriebswirtschaftlichem Know-how während der Schulzeit. Der Großteil der Schülerfirmen ist deshalb auch eine weitgehend pädagogisch dominierte Veranstaltung unter der Ägide der jeweiligen Schule.

 

Erst mit der Herausforderung der Nachhaltigkeit entstand tendenziell ein neues Paradigma der Schülerfirma. Es sind drei Aspekte, die nachhaltige Schülerfirmen „anders“ machen: 

  1. Die inhärente Komplexität des Nachhaltigkeitsthemas
  2. Die Tatsache, dass Nachhaltigkeit letztlich eine Transformation unseres Wirtschaftssystems bedeutet
  3. Die besondere Motivationskraft, die das Nachhaltigkeits- und Klimathema bei Schülerinnen und Schülern der „Generation Greta“ zu erzeugen scheint.

Die Komplexität von Nachhaltigkeit liegt an sich schon im Anspruch begründet, ökologische, soziale und ökonomische Aspekte gleichzeitig und gleichwertig im Blick zu haben. Noch komplexer wird die Sache, wenn (Schüler-)Firmen versuchen wollten, die 17 Ziele und 169 Unterziele der Agenda 2030 im Blick zu behalten. In der Realität haben sich deshalb auch nachhaltige Schülerfirmen bislang auf einige wenige und eher traditionell dem Umwelt- und Naturschutz zuzurechnende Bereiche fokussiert. Die Website des Netzwerks „Nachhaltige Schülerfirmen“ zählt diese Bereiche auf: 

  • Gesunde Ernährung
  • Fairer Handel
  • Imkerei
  • Steuobstwiese
  • Recycling/Uprecycling
  • Nachhaltiges Schulmaterial
  • Soziales Engagement
  • Energie- und Klimaschutz (NEU) 

Bezeichnenderweise ist das Thema Energieeffizienz und Klimaschutz ein erst vor kurzem hinzugekommenes Handlungsfeld. Wenn man die drei Beispiele von Schülerfirmen, die unter dieser Rubrik auf der Netzwerk-Website aufgeführt sind, genauer anschaut, findet man, dass entweder gar keine Infos mehr verfügbar sind oder dass die tatsächlich wirtschaftlich relevanten Aktivitäten sich auch hier auf den Verkauf von Schulheften aus Recyclingpapier oder Obstsaft von Streuobstwiesen beschränken. Hingegen hat eine Schülerfirma, die auf der Netzwerk-Seite noch nicht zu finden ist – energyECO aus Berlin-Karow – tatsächlich Dienstleistungen und Produkte auf ihrer Website, die anderen Schulen zu gute kommen -  von messtechnisch und kommunikativ unterstützten Lüftungskampagnen über den Poster-Verkauf für Kampagnen bis hin zu selbst entwickelten Feinstaub-Messstationen und Echtzeit-Messnetzen für die Raumklima- und Energiekontrolle in Klassenräumen. 

Die Gymnasiasten, die energyECO betreiben, bezeichnen sich selbstbewusst als „Deutschlands jüngste Energieberater“. Auch in der Pressearbeit ist die Gruppe versiert. Dennoch würden sie durch ein strenges Nachhaltigkeitsraster fallen, denn bei energyECO arbeiten ausschließlich Jungs mit. Die Schülerfirma ist aus einem mehrjährigen Energieprojekt von „Köpfchen statt Kohle“ entstanden. Unter den zehn Schülern, die die Schüler-Aktiengesellschaft jüngst gegründet haben, ist mehr als Hälfte schon seit drei und vier Jahren dabei. Die Schüler haben sich also aus sich selbst heraus und in der Auseinandersetzung mit ihren Aufgaben zu einem ehrgeizigen Team entwickelt. Dass während der ganzen Zeit Mädchen nie in der Gruppe Fuß fassen konnten, hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Jungs die Chance gesehen haben, her mal „ihr Ding“ zu machen. Die kontinuierlich involvierten Projekt-Coaches der Nachhaltigkeitsagentur stratum haben keinen Grund gesehen, ein Gender Mainstreaming in der Schülergruppe durchzuboxen und die Aufnahme von Mädchen zur Pflicht zu machen. Thematisiert wurde das „Problem“ wohl, aber ein Zwang zur politisch korrekten Zusammensetzung wäre kontraproduktiv gewesen. Ist energyECO also nicht nachhaltig?

 

Dass Nachhaltigkeit die Transformation unseres Wirtschaftssystems bedeutet, lässt sich an einem anderen Beispiel verdeutlichen. Im bayerischen Donauwörth hatte eine Lehrerin das Interesse, ein berufsvorbereitendes Seminar, wie es an ihrem Gymnasium während der letzten eineinhalb Jahre vor dem Abitur üblich ist, mit dem Thema Nachhaltigkeit zu konfrontieren. Das Seminar, an dem 12 Schülerinnen und Schüler teilnehmen, sollte den Ehrgeiz entwickeln, die praktizierte Nachhaltigkeit an der Schule einen Schritt voranzubringen. Der Schulträger unterstützte diesen Ehrgeiz, indem er stratum beauftragte, den Kick-off des Seminars zu begleiten und die Lehrkraft zu beraten. Aus dem zuständigen Landratsamt kam die Idee, die Schüler mit den Sustainable Development Goals (SDG) zu konfrontieren. Im Kick-off-Workshop bildeten die SDG das Kriterienraster für die Einschätzung vorhandener Handlungsoptionen.

 

Was zunächst sehr theoretisch anmutete, endete in einer wirklich ehrgeizigen Zielsetzung: Die Schüler nahmen sich vor, für die wenig attraktive Mensa ein neues Konzept zu erarbeiten, das die Mitschüler anspricht, einen maximal geringen ökologischen Fußabdruck hat und ein Beitrag zur gesunden Ernährung ist. Als sie umgehend ihr Konzept dem Landrat persönlich vorstellten, zeigte dieser sich sehr angetan. Da ohnehin ein Betreiberwechsel bevorsteht, ergibt sich jetzt sogar die Chance, die Kriterien der Ausschreibung um nachhaltige Aspekte zu ergänzen. Inzwischen haben die Schüler, die ihr Projekt unter dem Titel time4action auch auf einer Website nachverfolgbar machen, die Zusage des Landratsamts, dass rein ökonomische Kriterien für die Auswahl des künftigen Mensabetreibers nicht mehr ausschlaggebend, sondern auch ökologische und soziale Aspekte gleichgewichtig, wenn nicht sogar entscheidend sein sollen. Da das Mensa-Konzept der Schüler/innen eine aktive Mitbestimmung und Beteiligung vorsieht, ist es nicht unwahrscheinlich, dass für die Verstetigung und Multiplikation des neuen Mensa-Typs auch eine Schülerfirma gegründet wird, die den begonnenen Transformationsprozess bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen einer nachhaltigen Schulverpflegung fortsetzt und weiterverbreitet.

 

Nachhaltigkeits-Pädagogen mögen sich wünschen oder erwarten, dass die Jugendlichen der „Generation Greta“ besonders für Nachhaltigkeit motiviert sind und für „nachhaltige“ Schülerfirmen deshalb eine besondere Konjunktur entsteht. Bisher ist das freilich noch nicht zu beobachten. Möglicherweise ist die Motivation, zu demonstrieren und über die Medien öffentlichen Druck auf die Politik auszuüben, eine ganz andere als die, eine Schülerfirma zu gründen. Zumindest legt dies eine Aussage der Schüler von energyECO nahe, die einer Journalistin des „Neuen Deutschland“ Rede und Antwort standen: „An den seit einem Jahr laufenden Schulstreiks beteiligen sich die Energieberater nicht. Levi war zwar schon bei »Fridays for Future«, allerdings als ohnehin schulfrei war. Die drei finden gut und wichtig, was »Fridays for Future« macht, sagen sie, hätten für sich aber einen anderen Weg gewählt. Sie wollen durch das Streiken nicht ihre persönliche Zukunft gefährden. »Ich finde es sinnvoller, mich dort zu engagieren, wo ich direkt und effektiv was bewirken kann«, sagt Hannes. Ein echter Unternehmer eben.“

 

Was lässt sich aus diesen Beobachtungen und Erfahrungen schließen? Ich möchte es in drei kurze Thesen fassen:

  1. Komplexität: Nachhaltige Schülerfirmen sollten sich nicht mit den überkommenen Themen und Lösungen begnügen, die – wie mir scheint – sehr von der Öko-Sozialisation ihrer in die Jahre gekommenen Lehrkräfte bestimmt sind. Es ist wichtig, dass auch Schüler sich wirklich in die Probleme vertiefen und mit einem hohen Anspruch, Kreativität und Ehrgeiz an die Lösung gehen. Unternehmerisch denken lernt man nicht, indem man nachmacht, was andere längst vorgemacht haben.
  2. Transformation: Nachhaltigkeit erfordert auch, bestehende Werte, Übereinkünfte und Routinen zu hinterfragen und „out of the box“ zu denken. Das ist nicht nur eine Frage des Intellekts, sondern auch des Mutes, Machtverhältnisse herauszufordern und politisch Verantwortliche unter Argumentationszwang zu setzen. Schüler und Jugendliche, die aktiv werden, Kompetenzen erwerben und für ihre Vorschläge argumentativ und öffentlichkeitswirksam eintreten können, haben eine vielfach höhere Aufmerksamkeit und ein wesentlich höheres moralisches Gewicht als jede politische Gruppierung oder Initiative von Erwachsenen.
  3. Motivationskraft: Die letztgenannte Beobachtung wird durch den Erfolg von „Fridays for Future“ eindrucksvoll belegt. Allerdings bedeutet das höchstwahrscheinlich nicht, dass die „Generation Greta“ verstärkt erfolgreiche und innovative nachhaltige Schülerfirmen gründen wird. Es sind anders gelagerte Motive, die Menschen auf Demonstrationen führen oder zu Schüler-Unternehmern machen. Die Unterstützung, die Schüler-Unternehmer benötigen, ergibt sich viel eher aus den erstgenannten beiden Dimensionen. Der Aufmerksamkeits- und Bedeutungshintergrund, den „Fridays for Future“ geschaffen hat, ist dennoch auch für die nachhaltigen Schülerunternehmer äußerst hilfreich.
Dieser Beitrag erschien auch im Forum Nachhaltig Wirtschaften

Nomaden des Anthropozän

Januar 2020

Brandenburg spürt den Druck bereits. Das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung listet in einer aktuellen Studie „Urbane Dörfer“ 14 größere Wohnprojekte zwischen Gerswalde und Wiesenburg/Mark auf, die von Berliner „City Quittern“ auf dem Land installiert worden sind. Gerswalde wird inzwischen als Hipsterdorf in der Uckermark und 13. Bezirk Berlins tituliert. Während es hier kaum noch die alten leerstehenden Häuser und Bruchbuden gibt, die die Stadtflüchtigen in Beschlag nehmen könnten, entstehen in Wiesenburg gleich neuartige Bauformen – Tiny Houses für bis zu 250 Bewohner sollen auf dem Gelände eines ehemaligen Sägewerkes entstehen. Das Projekt nennt sich „KoDorf“ und will Stadt und Land vereinen: „Die Ruhe der Natur mit der für unseren heutigen Lebensstil notwendigen Infrastruktur“, wie es auf der Projektwebsite www.kodorf-wiesenburg heißt. Eine Option, die sich vor allem für Digitalarbeiter eröffnet, die überall arbeiten können und gerne solche naturnahen Coworking-Spaces nutzen, um das Beste aus beiden Welten für sich zu nutzen.

 

Auf Veranstaltungen des Vereins, der sich Dorfbewegung Brandenburg nennt, sieht man diese Entwicklung kritisch. Die angestammte Bevölkerung empfinde die neuen Siedler nicht selten als Usurpatoren, berichtet Grit Körmer, die stellvertretende Vorsitzende des Vereins und hauptamtliche Projektentwicklerin und Expertin für Förderprogramme im ländlichen Raum. „Wenn wir nicht aufpassen, entstehen hier lauter Fremdkörper in den ländlichen Regionen, die letztlich niemandem wirklich nützen“, stellt Körmer fest. Auf der anderen Seite erkennen Bürgermeister der ländlichen Regionen Ostdeutschlands durchaus neue Hoffnung für ihre Dörfer, wenn zunehmend Stadtflüchtige die Reize des Ruralen entdecken. Frederik Bewer, Bürgermeister von Angermünde, gehört zu denen, die sich auch auf den Meetups der neuen Landbewegung in Berlin herumtreiben und für neue Ideen zur Belebung des ländlichen Raums offen sind. Brewer könnte sich sogar vorstellen, eine Siedlung aus Seecontainern aufzustellen, um neue Wohn- und Lebensformen auszuprobieren. Die Idee dazu kommt von einem gerade erst gestarteten Unternehmen, das sich „Neue Räume zum Leben“ nennt und einen besonderen Akzent in der Entwicklung setzen möchte.

„Wer wohnt denn normalerweise in Containern?“, fragt die Diplom-Geografin Claudia Kerns, die zu den Initiatoren gehört. Die Frage ist rhetorisch gemeint, denn natürlich denkt man erst einmal an Bauarbeiter oder Flüchtlinge. Die Assoziation sei auch gar nicht so abwegig, wie Kerns betont. Aber dazu später. Tatsächlich sind um- und ausgebaute Seecontainer eine durchaus bereits erprobte Wohnform für Menschen, die etwas anders wohnen wollen. In den USA, dem Land der Trailerparks, sind Containerhäuser nichts Ungewöhnliches, wohl aber noch bei uns. Die Begeisterung für ausgebaute Seecontainer hat hierzulande bisher eher eine kleine Fangemeinde angesteckt, die im DIY-Verfahren „Pocketcontainer“ ausbaut, wie sie beispielsweise der Ingenieur Stefan Brandt aus dem niedersächsischen Liebenburg für verschiedene Container-Standardmaße projektiert. Seine Baupläne verkauft er an Liebhaber des „Trends zum modernen Kleinstheim“. In größerem Stil baut die „Containermanufaktur“ in Berlin-Schöneweide seit 2015 Seecontainer aus. Dennoch sagt uns Projektmanager Christian Bickelmann, dass es sich noch nicht lohne, Containermodelle zu konfektionieren. „Der Markt dafür ist noch nicht da. Was wir machen, sind alles individuelle Einzel-Anfertigungen.“

 

Woher nehmen dann aber Claudia Kerns und ihre Mitstreiter von „Neue Räume zum Leben“ ihre Motivation, auf Container als neue Wohnform und Antwort auf die neue Landlust zu setzen? Das Geschäftsmodell sieht nämlich vor, vorkonfektionierte und typisierte 20- und 40-Fuß-Seecontainer zu entwickeln. 20-Fuß-Container sind sechs Meter lang und jeweils zweieinhalb Meter breit und hoch, 40-Fuß-Container sind doppelt so lang. Gegenüber den inzwischen zu einer gewissen Beliebtheit gekommenen Tiny Houses aus Holz haben die Seecontainer den Vorteil einer robusteren Hülle und Statik. Allerdings benötigen sie zur Aufstellung ein tragfähiges Fundament und für den Transport einen Tieflader. Tiny Houses hingegen werden meist auf einem Anhängergestell herumgefahren und verbleiben auch auf dem fahrbaren Untersatz, wenn sie aufgestellt werden.

 

Die Container-Idee kam den Gründern von „Neue Räume zum Leben“, als sie mit dem inzwischen Ehrenbürgermeister des Bioenergiedorfs Bollewick an der Müritz über die Belebung der ländlichen Räume in Ostdeutschland diskutierten. Bertold Meyer berichtete, dass auch in seiner Region ein gewisses Interesse von Städtern am Umzug aufs Land zu verzeichnen sei. Allerdings fügte er hinzu: „Nicht jeder ist für das Leben auf dem Land geeignet.“ Daraus entstand die Idee, Kommunen und Landkreisen Optionen anzubieten, Städtern das „Probewohnen auf dem Land“ schmackhaft zu machen. Dass man das mit variabel kombinierbaren Containern machen könnte, wurde jedoch erst zur Geschäftsidee, als Claudia Kerns noch weitere Mitstreiter aus anderen Gebieten fand. Mit dabei sind inzwischen ein Philosophiestudent, der aus der Tiny House-Szene kommt, eine Architektin, die in der Nachhaltigkeitsabteilung eines großen Immobilienunternehmens gearbeitet hat, eine pensionierte Bezirksstadträtin, ein sozialpolitisch engagierter Vertriebsmanager aus dem Beleuchtungssektor, ein Energieberater sowie die Experten der stratum GmbH, die sich als Unternehmensberatung für den Non-Profit-Sektor betätigen und zu denen Claudia Kerns als ehemalige Mitgeschäftsführerin noch Kontakt hat.

 

Diese Partner bringen unterschiedliche Interessen und Expertisen mit ein, aus denen sich das Geschäftsmodell von „Neue Räume zum Leben“ speist. Der Student Joschka Härdtner ist aktiv im „Tiny Collective“, einer Art Ausgründung der Tiny Foundation des Van Bo Le-Mentzel, der mit dem „100-Euro-Haus“ in Berlin bekannt wurde. Das Tiny Collective möchte zum einen den Selbstbau von Tiny Houses als Gemeinschaftserlebnis fördern, zum anderen das Potential des mobilen Wohnens auf kleinem Raum nutzen, um demokratie- und gemeinschaftsfördernde Lebensformen zu erproben. Für Joschka Härdtner und einige seiner Mitmacher im Tiny Collective ist aber auch die Herausforderung des Werkstoffs Metall ein Motiv, sich am Containerprojekt zu beteiligen.

 

Als durchgehendes persönliches Motiv bei allen „Neue Räume…“-Protagonisten stellen sich zwei Aspekte heraus. Einmal die Suche nach mehr „Naturanschluss“ zum Leben und Arbeiten, zum anderen die Idee, ein minimalistisches Wohnkonzept auch als Alterssicherung und gemeinschaftliche Lebensform mit mehr Mobilität und experimentellem Spielraum zu verbinden. Damit dürften sie zwei stabilen Mainstream-Trends unserer Gesellschaft entsprechen. Spricht man mit den Gründern, wird deutlich, dass hinter dieser Motivlage auch noch eine gehörige Portion gesellschaftspolitischer Vision steckt. „Wir machen ein Angebot für die Nomaden des Anthropozän“, verkündet Claudia Kerns, die die Geschäftsführung des Projekts übernehmen wird. Die Idee, in Containern zu wohnen, die flexibel aufgestellt und genutzt werden können, kein unterkellertes Fundament benötigen, sich dadurch relativ leicht den sozialen und klimatischen Lebensbedingungen anpassen lassen und bei den Bewohnern gar nicht das Gefühl aufkommen lassen „Hier bin ich und hier bleibe ich und verteidige, was ich habe“, diese Idee eines ressourcenleichteren und mobileren Wohnens sei ein neues, nachhaltigeres Zivilisationsmodell für die Anpassung an den Klimawandel. In Containern zu wohnen, näher an der Natur, aber ebenso näher an der Straße – denn Containersiedlungen ließen sich auch in städtischen Räumen realisieren -, heiße auch, so die Initiatoren, näher an den Nachbarn und mehr im Austausch mit dem sozialen Umfeld. Da der Container in seiner Größe begrenzt ist, liege die Herausforderung in der intelligenten Kombination der Nutzungen. So soll es neben Wohncontainern und Arbeitscontainern auch Nasszellen-, Sauna-, Küchen- und Werkstatt-Container geben, die aus ökonomischen, ökologischen und sozialen Gründen gemeinschaftlich genutzt werden.

 

Wenn demnächst also die Bürgermeister, Landräte und Regionalpolitiker im ländlichen Raum der neuen Bundesländer den Angebotsprospekt von „Neue Räume zum Leben“ auf den Schreibtisch bekommen, könnte das nicht nur ein praktischer Vorschlag sein, wie für die verschiedenen stadtmüden Zielgruppen die Hürde zum Probewohnen auf dem Land gesenkt werden könnte. Sondern es könnten, worauf Joschka Härdtner hinweist, ganz neue experimentelle Siedlungsformen entstehen, die wesentlich schneller geplant, realisiert, umgebaut und erweitert werden könnten, als dies noch heute der Fall ist. Wann es soweit ist? Die Macher von „Neue Räume zum Leben“ haben auf einem Naturcampinggelände in der Nähe von Fürstenberg/Havel ein Areal gepachtet, auf dem einige Modellcontainer wie in einem Showroom besichtigt und getestet werden können.

 

Den Vorwurf, das Land mit urbanen Konzepten zu usurpieren, möchte man auf keinen Fall provozieren. Was auf dem Gelände bei Fürstenberg deshalb auch zu testen wäre, so Claudia Kerns, sei die Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung. Gerade weil die Container allerdings optisch bereits als Fremdkörper wirkten und man sich damit nicht erst einmal im ländlichen Raum verstecken könne, sei es vielleicht einfacher, Neugierde und Interesse zu wecken, so die Hoffnung der Initiatoren. Gemeinsam mit der Bevölkerung im ländlichen Raum wolle man zudem darüber nachdenken, welche Funktionen sich durch die Container noch realisieren ließen, beispielsweise Mini-Kitas, Maker-Spaces oder kleine ärztliche und therapeutische Behandlungsstationen. Bereits im Januar soll es losgehen. Claudia Kerns rechnet damit, dass zu Ostern der Fürstenberger Showroom eröffnet werden kann.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in DIE WELT, 7.1.2020 (S. 2)

Braucht Nachhaltigkeit systemische Intelligenz?

Oktober 2019

Wenn man mit Schülern über Nachhaltigkeit diskutiert, auch mit Gymnasiasten, ist es zwar verblüffend, aber auch nicht allzu verwunderlich, dass die Antworten oft eher einfach und strikt ausfallen. Am liebsten würden die jungen Leute einfach alles verbieten, was als Übel in der Welt zu sein scheint – Plastik, klimaschädliche Maschinen, Fleischfabriken.

 

Dass es in einer pluralistischen Gesellschaft, einem komplexen sozialen System und in einer globalisierten Welt nicht einfach so mit Verboten möglich ist, alle Probleme zu lösen, dass die Kunst darin besteht, in demokratischen Verfahren Rahmenbedingungen richtig zu setzen und die freie Betätigung der Menschen so in vernünftigen Bahnen zu lenken, diese Einsicht ist Ergebnis von Erfahrungen, die man 10- bis 16-Jährigen noch nicht abfordern kann. Das Modelllernen in der Familie basiert ja auch zum großen Teil auf dem Prinzip elterlicher Ge- und Verbote.

 

In den Schulen könnte man freilich schon etwas dafür tun, dass in Gesellschaftskunde oder politischer Bildung auch systemische Intelligenz gefördert wird. Das würde die Fähigkeit entwickeln, zu erkennen, dass unsere Gesellschaft nicht nach einem durchgehenden Prinzip organisiert ist, sondern die Resultante ganz verschiedener Vektoren ist. Dass also z.B. ein marktwirtschaftliches System nach einer andere Logik oder Rationalität funktioniert wie ein Rechts-, Bildungs- oder Mediensystem. Freilich wissen das auch viele „Große“ noch nicht wirklich. Und daraus entsteht dann nicht selten die Idee, es müsse ein übergeordnetes Prinzip geben, dem sich alle gesellschaftlichen Bereiche unterzuordnen hätten. Derzeit ist „Nachhaltigkeit“ so eine totalitäre Idee. Dabei wird der Begriff dann nicht als das verwendet, was er ist, nämlich der Überbegriff einer Menge von Entwicklungs- und Wachstumsproblemen unserer Zivilisation, sondern er wird zur generelle Lösungs- und Heilsformel.

 

Dass das so nicht funktionieren kann, zeigt eine Plakatkampagne, die die Bio-Handelskette Bio Company auf uns loslässt. Auf großformatigen Postern des Biosupermarkt-Filialisten kann man in U-Bahnhöfen in Berlin derzeit die Aufforderung lesen: „Kauf weniger“. Mit dem Zusatz „Weil uns Nachhaltigkeit wichtiger ist.“ Wenn Bio Company diese Idee wirklich ernst meint, dann müsste in den Filialen jetzt eine große Preissteigerung einsetzen. Denn das ist das, was der Filialist tun kann, damit die Menschen (bei ihm) weniger kaufen. Natürlich passiert das nicht. Und es ist alles nur Werbung.

Das Beispiel zeigt aber auch sehr deutlich, dass systemisches Denken über Nachhaltigkeit Not täte. Denn natürlich funktioniert Marktwirtschaft über den Preis – und nicht über moralische Appelle. Im Rahmen ihrer Aktion „Kauf weniger“ ließ die Bio Company die Kunden in einer Filiale in Berlin an einem Tag Ende September den Preis für ihren Einkauf selbst bestimmen. Die Supermarkt-Betreiber zeigen sich vom Ergebnis angeblich enttäuscht. Sie posten auf Facebook: „Das Ergebnis ist ernüchternd und offenbart Wissenslücken: 62 Prozent der Kunden schätzten den Preis für ihren Einkauf zu niedrig ein." Die Wissenslücken liegen aber in Wirklichkeit bei der Bio Company.

 

Denn es ist doch völlig normal, dass Käufer möglichst viel für möglichst wenig haben wollen. Wenn Bio Company es ernst meint mit „Kauft weniger“ und „Nachhaltigkeit ist wichtiger“, dann erhöhen sie ihre Preise und sorgen für weniger Absatz. Das werden sie natürlich nicht tun, weil sie genauso wie ihre Käufer marktwirtschaftliche Nutzenoptimierer sind. Das ist die Rationalität unseres Wirtschaftssystems.

 

Was hinter dem kleinen Nachhaltigkeits-Experiment im Supermarkt steckt, ist auch die verbreitete Annahme, es gebe so etwas wie die „wahren“ Preise von Produkten. Preise bilden sich aber immer nur auf Märkten und sie bilden Marktverhältnisse ab. Sie werden deshalb als Teil von wirtschaftlicher Rationalität niemals z.B. die externalisierten Kosten abbilden und von sich aus so etwas wie die soziale oder ökologische Nachhaltigkeit widerspiegeln. Um soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu realisieren, müssen politische Rahmenbedingungen gesetzt (und durchgesetzt) werden.

 

Wir müssen deshalb nicht die Marktwirtschaft abschaffen, um Nachhaltigkeit zu erreichen, sondern den politischen Prozess und die Zivilgesellschaft stärken. Die Marktwirtschaft an sich ist okay. Andreas Siemoneit hat das zusammen mit Oliver Richters in seinem Buch „Marktwirtschaft reparieren“ sehr deutlich herausgearbeitet. Dass er damit bislang relativ wenig Gehör findet, hat wohl damit zu tun, dass das systemische Denken weniger weit verbreitet ist, als man denken möchte. Sonst würden wir in der Nachhaltigkeitsdebatte nicht immer wieder versuchen, Systemen eine Rationalität aufzudrücken, die sie nicht haben können. 

Rationalität rettet die Welt – Irrationalität entscheidet, wann

September 2019

Die Schüler der Fridays for Future-Demonstrationen sind inzwischen auch soziologisch-demografisch rubriziert: „Generation Greta“ nennt der Medien- und Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz die Bewegung, hinter die sich inzwischen Scharen von erwachsenen Unterstützern einreihen. Wogegen Bolz Einwände hat, aber dazu später.

 

Norbert Bolz entdeckt (in der Neuen Zürcher Zeitung, 29.8.2019) hinter Fridays for Future eine „Ersatzreligion“ und führt dafür zwei Indizien an. Einerseits die mit der Bewegung transportierte Untergangsbeschwörung, die er als seit langem in unserer Gesellschaft verankerten Modus betrachtet („… immer ist es fünf vor zwölf“). Zum anderen kommt ihm Greta Thunberg, die unbestreitbar die Ikone des neuen Klimaprotestes ist, als die „Heilige“ dieser Ersatzreligion vor. Auch Caroline Fetscher erkennt diese Qualität in der Inszenierung, wenn sie (im Tagesspiegel vom 8.9.2019) schreibt: „Ein Jahr später scheint Thunberg verwandelt in eine Jeanne d’Arc der Kinder und Jugendlichen in aller Welt.“ Wobei der letzte Zusatz eher bezweifelt werden kann, nachdem vergangene Woche, nach Gretas spektakulärer Ozean-Überquerung im Rennsegler, nur 100 Teilnehmer zum Schulstreik vor das UN-Gebäude in New York gekommen waren.

 

Anscheinend benötigen Bewegungen, wenn sie Sichtbarkeit und mediale Wirkung entfalten wollen, solche „Heiligen“. Die Journalistin Caroline Fetscher weist auf diesen Zusammenhang am Ende ihres Artikels hin: „Der Greta-Effekt ist weniger durch Greta entstanden, als dass er sie gebraucht, gesucht und gefunden hat.“ Obzwar nahezu tabuisiert, muss es festgehalten werden, was Greta zur Ikone qualifiziert – die „seelische Disposition aus dem autistischen Diagnosespektrum“ (Fetscher) bzw. wie Norbert Bolz es streitlustig nennt, die „Überempfindlichkeit einer Jugendlichen und Asperger-Patientin“. Was normalerweise als relative persönliche Schwäche und Problematik erscheint, wird durch ihre Rolle als Ikone der Fridays for Future-Bewegung zur absoluten Stärke: Gretas unbeirrte Fixierung auf ein Thema und die nahezu unbeeinflussbare Emotionslosigkeit des Vortrags – Caroline Fetscher spricht von der „fast flachen Art“, in der Greta kommuniziert. Alles emotionale Gewicht steckt, wenn man so will, in der sachlichen Botschaft, die absoluten Vorrang vor allen anderen Problemen der Welt beansprucht. 

So wird eine entemotionalisierte Inszenierung erstaunlicherweise zum perfekten Anker, um Zigtausende Schülerinnen und Schüler und Jugendliche auf die Straße zu bringen und ihre Zukunftsangst auf einen einzigen Fokus zu richten. Norbert Bolz wertet dies ab, weil er keinen rationalen Kern darin sehen kann: „Im Kampf gegen den vom Menschen gemachten Klimawandel erleben wir eine Gefühlsintensität, die man nur als infantil bezeichnen kann.“ Und folgerichtig fehlt ihm jedes Verständnis für die Vertreter der Elterngeneration, die sich nun allenthalben und wie es den Anschein hat wohlfeil hinter den Schülerprotest einreihen. Diese Vereinnahmung der Fridays for Future durch diejenigen, die doch eigentlich als der erwachsene, verantwortliche und durchaus auch „schuldige“ Adressat und Konterpart der Schülerproteste gelten müssen, ist aus diesem Grund in der Tat ärgerlich. Denn sie kann weder als Entschuldigung dienen für die bisherige Passivität und Zukunftsvergessenheit der Erwachsenenwelt (in Wirtschaft, Politik usw.) noch als Ersatzhandlung herhalten für die eigentlich nötigen ernsthaften Diskurse zwischen der heute tonangebenden und der nächsten Generation.


Es gibt keinen Zweifel, dass es vernünftig und an der Zeit ist, Klimapolitik ernster zu nehmen als bisher. Diesen Effekt hat die „Generation Greta“ erzeugt, gerade weil sie völlig irrational über das Ziel hinausschießt und die Klimafrage für die zentrale und alleinige Existenzfrage der nächsten kurzen Zeitspanne ihres Hineinwachsens in die Erwachsenenwelt erklärt. Auf andere Weise  und auch ohne eine „Heilige“ wie Greta Thunberg wäre ihr das wohl kaum gelungen. Erstaunlicherweise sind Wendepunkte, die der ökologischen Vernunft zu mehr Geltung verholfen haben, oft nur durch solche irrationalen Faktoren erfolgt. Das war z.B. so, als der Club of Rome mit erwiesenermaßen nicht eingetroffenen Katastrophenszenarien auftrat oder als nach Fukushima der Atomausstieg beschlossen wurde. Deshalb müssen wir es wohl hinnehmen, dass unsere Welt nur durch einen Oszillationsprozess zwischen Rationalität und Irrationalität allmählich besser, nachhaltiger werden kann. Als Menschen sind wir zwischen den Fähigkeiten unseres Großhirns und den Emotionen und Motivationsstrukturen unseres limbischen Systems eingespannt. Ohne Emotionen handeln wir nicht, ohne Ratio finden wir keine funktionsfähigen Lösungen für eine sich entwickelnde Menschheit. (Foto: Markus Spiske)


Nachhaltigkeit im Sommer 2019: Mehrheit setzt auf Regulierung durch die GRÜNEN und hofft, dass es nicht so weh tut

August 2019

Das ist das Bild, das sich diesen Sommer bei aufgeklärten Menschen in Deutschland ergibt: Man genießt die Wärme und weiß, dass die Zeiten unruhiger werden. Die Probleme mit der Nachhaltigkeit unseres Lebensstils werden staatliche Eingriffe und Verbote notwendig machen, aber unsere Freiheiten sehen wir noch nicht in Gefahr. Wenn wirkliche Einschränkungen nötig werden, dann eher weiter Weg in der Welt, nicht aber bei uns. So könnte man die Ergebnisse unserer kleinen Sommerumfrage zusammenfassen, an der sich 117 Empfänger unseres Newsletters beteiligt haben.

 

Nur 26% der Befragten vertrauen auf die politische Stabilität in Deutschland, wohingegen 51% absolut kein Vertrauen mehr in stabile politische Verhältnisse setzen. Was damit gemeint sein könnte, offenbart der Blick auf die künftige Parteienlandschaft. 41% erwarten, dass es neue „Volksparteien“ geben wird, in erster Linie seien dies die GRÜNEN (26%), aber im Osten auch die AFD (15%). Einer schwarz-grünen oder grün-schwarzen Koalition werden fast doppelt so hohe Chancen eingeräumt wie einem irgendwie gearteten links-grünen Bündnis.

Eigentlich wissen wir alle, dass der Lebensstil in Ländern wie Deutschland einen enorm viel größeren ökologischen Fußabdruck erzeugt als in weiten Teilen der Welt. Wir hätten deshalb gedacht, dass die Teilnehmer unserer Befragung uns hierzulande im Vergleich zur Welt insgesamt mehr Einschränkungen auferlegen würden, um die Klimaziele zu erreichen. Doch das Gegenteil ist der Fall! Während 71% Einschränkungen in Deutschland für nötig halten, sind es 81%, die so etwas weltweit verlangen. Sind also immer noch die anderen etwas mehr verantwortlich als wir?

 

In der Interpretation dieser Ergebnisse erlauben wir uns, den Einfluss der sozialen Erwünschtheit als Korrekturfaktor zu veranschlagen und die 10% Abweichung relativ höher zu werten als die 71% Befürworter von Freiheitseinschränkungen. Das bedeutet: Insgeheim hoffen wir wohl eher, dass die Anpassung an den Klimawandel hierzulande doch nicht so weh tut wie anderorts.

 

Immerhin aber steigt die Erwartung, dass staatlich-regulierende Eingriffe nötig werden, um der Nachhaltigkeit zu mehr Wirkung zu verhelfen. In unserer Umfrage ist dies mit 42% der weitaus am höchsten bewertete Faktor. Anscheinend setzt sich die Erkenntnis durch, dass freiwillige Einschränkungen doch nicht funktionieren und wir uns selbst wünschen, strenger normiert zu werden. 

Das Zutrauen in technologische Lösungen fällt dagegen eher gering aus (8%). In einer Zeit, in der alle von E-Mobilität reden und die technischen Optionen, CO2 wieder aus der Atmosphäre zu holen, zunehmend diskutiert werden, ein vielleicht überraschendes Ergebnis. Aber vielleicht hat hier ja auch die Kritik an den doch nicht so sauberen Elektroautos für Entzauberung gesorgt.


Freiheit oder Gerechtigkeit – Was macht die offene Gesellschaft nachhaltig?

Juni 2019

Als Karl Popper 1945 sein gesellschaftspolitisches Plädoyer über „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ vorlegte, stand der Autor unter dem Eindruck der totalitären Systeme des Faschismus und Stalinismus. Wenn der Psychiater und Ökonom Stefan Brunnhuber heute sein neues Buch „Die offene Gesellschaft“ nennt, in dem es auch um die Bedrohungen für unsere Gesellschaft und die Tendenzen zu „geschlossenen“ Gesellschaften geht, hat sich das Feindbild gewandelt. In einem aufschlussreichen Streitgespräch zwischen Brunnhuber und dem Rechtsphilosophen und Soziologen Felix Ekardt am 2. Mai 2019 in der stratum lounge, ging es darum, was uns das Poppersche Konzept heute, in Zeiten der großen Herausforderung, eine nachhaltige Politik für den Planeten zu formulieren, noch bedeutet und ob es uns weiterhilft.

 

Die drei heutigen Feinde der offenen Gesellschaft sieht Stefan Brunnhuber in

  1. autokratischen Gesellschaften und Staaten, die oft schneller und durchgreifender als offene, demokratische Lösungen umsetzen, die auch im Sinne der Nachhaltigkeit wünschbar erscheinen
  2. nationalistischen und populistischen Strömungen, die die Probleme der Nachhaltigkeit umdeuten und ableugnen und ihre Wähler und Sympathisanten mit vereinfachten Antworten gewinnen
  3. Großtechnologien, die die technologische Entwicklung dominieren und anderen Wegen und Alternativen die Ressourcen und Experimentierräume abschneiden.

Dabei schätzt Brunnhuber die Gefahr, die durch Autokratien entsteht, relativ gering ein. Autokratische Systeme lebten nämlich von Voraussetzungen, die sie nicht selbst herstellen könnten. Sie usurpierten und missbrauchten die Errungenschaften offener Gesellschaften und seien letztlich selbstlimitierend. Wenn es nur Autokratien auf unserem Planeten gäbe, so Brunnhuber, wären wir blind gegenüber Nachhaltigkeit, wüssten nichts von der Vernetztheit und Interdependenz der Welt und den planetarischen Grenzen.

Die beiden Kontrahenten in der stratum lounge: Stefan Brunnhuber (links) und Felix Ekardt

Unter philosophischen Aspekten hat allerdings auch die offene Gesellschaft ein Begründungsproblem, denn sie könne sich nicht aus sich selbst heraus erklären und beweisen. Brunnhuber stellt unter Anlehnung an den Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde fest: „Freie Bürger erzeugen die offene, liberale, säkulare Gesellschaft und sie entscheiden gleichzeitig darüber, was eine offene Gesellschaft ist.“ Das sei „irgendwie zirkulär“, aber so bestimmten sich eben die Verhältnisse einer offenen Gesellschaft.

 

An dieser Stelle drängt es Felix Ekardt einzugreifen, der der Auffassung ist, dass man Karl Popper für die ganze Diskussion eigentlich gar nicht benötige. Popper sei ohnehin fachphilosophisch kaum ernst zu nehmen, allerdings für seine Zeit ein genialer Selbstvermarkter gewesen. Im Grunde gehe es jedoch darum, einen Kantianismus für unsere Zeit zu formulieren. Ekardt meint damit den Versuch, unsere Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Menschenwürde als universell gültige Kategorien zu begründen, die letztlich im Vernunftgebrauch verankert sind.

Mit Bezug zur Aufklärungsphilosophie spannt Ekardt dann auch den Bogen zur Nachhaltigkeit. In der Aufklärung habe man damit begonnen, sich darüber Gedanken zu machen, wo die Grenzen dessen liegen, was wir objektiv erkennen können. Dabei sei man zu der grundlegenden Auffassung gekommen, dass man für „Gerechtigkeit“ allgemein gültige und begründbare Standardsaufstellen könne, nicht jedoch für die Frage des „guten Lebens“, die jeder für sich selbst individuell beantworten müsse. In Zeiten der Nachhaltigkeit sei der Gerechtigkeitsbegriff intergenerationell und planetarisch-räumlich auszuweiten.

 

Hier ergibt sich dann der vermutlich einzige wesentliche Unterschied zwischen Brunnhuber und Ekardt. Mit Rückgriff auf Popper wertet Brunnhuber „Freiheit“ höher als „Gerechtigkeit“. Anscheinend befürchtet Brunnhuber, dass wir unter dem Etikett „Nachhaltigkeit“ den „imperialen Drang entwickeln, mit unserem Wohlstandsmodell den Rest der Welt zu beglücken“, wie er in seinem jüngsten Buch schreibt. Für Brunnhuber ist eine offene Gesellschaft durchaus „nicht identisch mit Demokratie, Rechtsstaat und eingehegter Marktwirtschaft“. Er kann sich offenbar ein institutionell breiteres Spektrum offener Gesellschaften vorstellen, während Felix Ekardt darauf besteht, dass „Gerechtigkeit im Kantschen Sinne als Richtigkeit einer gesellschaftlichen Grundordnung“ zu postulieren sei.

 

Beim Streitgespräch in der stratum lounge wurde auf solche feinen Unterschiede nicht näher eingegangen, weil auch das Interesse des Publikums sich natürlich vor allem auf die brennenden Fragen der Nachhaltigkeit konzentrierte. Und hier sind sich beide Wissenschaftler doch sehr einig. Zum Beispiel was den Grad der realen Bedrohung betrifft. Für Ekardt geht es heute darum, die physischen Grundlagen einer offenen Gesellschaft zu erhalten und Stefan Brunnhuber ist überzeugt, dass dies nur über eine „Wachstumsrücknahme“ in den Wohlstandsökonomien gehen kann.

 

Und für beide scheint die offene Gesellschaft alleine keine Garantie dafür zu bieten, dass das auch gelingt. Ob wir Wachstumsrücknahme und Verzicht innerhalb einer offenen Gesellschaft „durchstehen“ oder ob wir doch ganz andere institutionelle Rahmenbedingungen dafür benötigen, hält Stefan Brunnhuber für eine offene Frage. Felix Ekardt malt am Ende ein recht düsteres Szenario: „Die Entwicklung läuft wohl weniger auf eine Ökodiktatur hinaus, sondern auf katastrophale Zustände, die dann autoritäre Lösungsversuche nach sich ziehen. In einem finalen Kampf um die letzten Ressourcen wären dann autoritäre Regime wie China besser gerüstet. Vielleicht kommt es dann auch bei uns zu Renationalisierung und autokratischen Strukturen.“ Es ist ein Vernunftargument, aus dem Ekardt angesichts eines solchen Szenarios Hoffnung schöpft, wenn er darauf hinweist, dass eine derartige globale Entwicklung wirtschaftlich weitaus desaströser wäre, als wenn wir heute mit einer moderaten, aber konsequenten Abschwungstrategie begännen.

 

Der Schlussappell von Stefan Brunnhuber an seine Zuhörer betrifft die Überwindung unseres derzeitigen politischen Rechts-Links-Schemas und der dahinter stehenden Neigung unseres politischen Systems, die Lösung im Streit um die richtige Deutung der Dinge zu suchen. Die erneuerte offene Gesellschaft im Sinne Stefan Brunnhubers hat dieses Schema überwunden und konzentriert sich auf das vielfältige Experiment: „Wenn wir in offenen Gesellschaften leben wollen und das Postwachstumstheorem zum zentralen Theorem einer offenen Gesellschaft werden soll, wird es weniger um die Frage der Deutung gehen – mehr links oder mehr rechts -, sondern es wird eher um die Frage der Praxis gehen. Da spielen z.B. eher neue Technologien eine Rolle oder parallele Geldkreisläufe. Es geht darum, die Dinge anders zu machen und nicht nur anders zu deuten.“


Veränderung moderieren - Mindset und Know-how

März 2019

„Jetzt weiß ich, was Veränderungsmoderation ist“, bekannte eine Teilnehmerin unseres letzten Trainings-Workshops: „Es ist eine Frage der Haltung!“ Was meinte sie damit?

 

Natürlich hat professionelles Moderieren mit methodischem Know-how und personaler Rollenkompetenz zu tun. Aber mit dem Konzept der „Veränderungsmoderation“ entwickeln wir das Paradigma von Moderation weiter. Moderation ist der Führungsstil, den das agile Zeitalter benötigt, wie es Ulrich Weinberg jüngst in „Network Thinking“ treffend beschrieb: Keine Abteilungsgrenzen, Chefs mittendrin statt oberhalb, der Jurist mit dem Ingenieur und dem Marketingmann im Team…

 

Heruntergebrochen auf die Moderationsmethode besteht der neue Mindset aus fünf Prinzipien für die Moderationspraxis:

  1. Es geht nicht darum, die Menschen ‚dort abzuholen, wo sie stehen‘, sondern sie zu ermutigen, sich zu bewegen (Prinzip der dosierten Überforderung).
  2. ‚Störungen haben Vorrang‘ heißt es in der klassischen Moderation. In der Veränderungsmoderation ist es anders. Störungen haben keinen Vorrang. Statt Introversion zählt Extraversion. ‚Die Chancen liegen draußen!‘
  3. Konflikte in Organisationen sind normal. Wir müssen sie nicht erst „lösen“, bevor wir losgehen.
  4. Diversität ist in der Moderation Produktivkraft, nicht Hindernis. Gut, dass wir verschieden sind!
  5. Moderation findet auch auf der limbischen Ebene statt. Sie ist nicht nur „sachlich“.

Wie man als sich Moderator/in auf diese neuen Anforderungen einstellt, lässt sich nur in der Praxis lernen. Um z.B. menschliche Diversität zu erkennen und als produktives Potenzial zu nutzen, muss ein Moderator sein eigenes „Profil“ kennen und sich mit der Differenz zu anderen Denk- und Verhaltenspräferenzen auseinandersetzen. In den stratum-Trainings zur Veränderungsmoderation nutzen wir dazu eines der geeigneten wirtschaftspsychologischen Testverfahren, das „Herrmann Brain Dominance-Instrument“ (HBDI). Es ist höchst aufschlussreich für alle Beteiligten, das beobachtbare Moderations- und Führungsverhalten vor dem Hintergrund des HBDI-Profils des Moderators/der Moderatorin zu analysieren.

Trainings in Veränderungsmoderation finden also an der Schnittstelle zwischen den personalen Voraussetzungen des Moderators und den sachlichen Anforderungen von Moderationsaufgaben statt. Es ist eben nicht nur eine Frage der formalen Vorgehensweisen und Techniken der Moderation, ob Teams, Projektgruppen und Gremien das vorhandene Veränderungspotenzial erkennen und nutzen. Emotionalität, Stimulanz- und Dominanzmotive, Beziehungsebenen und menschliche Diversität sind die Spielfelder des Veränderungsmoderators.

 

Dabei muss diese eher psychologische Ebene des Moderatorenverhaltens jedoch immer mit der absoluten Beherrschung und dem situationsangemessenen Einsatz von Methoden-Tools einhergehen. Zu viele Moderatoren glauben nur zu wissen, wie z.B. eine Kartenabfrage einzusetzen ist, können es faktisch aber nicht. Und alle kennen zwar SWOT-Analyse , machen aber wesentliche methodische Fehler dabei. Die häufigsten Fehler bei der SWOT-Methode sind:

  1. Man begnügt sich mit der Aufstellung der Stärken-, Schwächen-, Chancen- und Risikolisten und arbeitet sie je für sich ab, anstatt die Korrelationen zwischen Stärken und Chancen, Schwächen und Chancen etc. zu diskutieren.
  2. Man hat Schwierigkeiten, Innen- und Außenwelt auseinanderzuhalten; u.a. versteht man „Chancen“ nicht streng als Faktor der Außenwelt, sondern bezieht es auf alles, worin man wünschenswerte Entwicklungen vermutet.
  3. Man glaubt, dass jede Stärke unmittelbar positiv sei und jede Schwäche überwunden werden müsse; die Option „Desengagement“ wird oft vernachlässigt.

Um Veränderungsprozesse zu ermöglichen und wirksam zu begleiten, benötigen wir also den neuen Mindset ebenso wie das professionelle Know-how im Umgang mit den sogenannten „Tools“. Die Verbindung ist es, was dem Erfolg ausmacht.

 

Die nächsten stratum-Trainingsworkshops „Veränderungsmoderation“ finden Sie hier!


Nachhaltigkeit ist das Problem - nicht die Lösung

Januar 2019

Seit wir im stratum-Büro eine neue LED-Beleuchtung haben, stehen an einigen der neun Lichtleisten Sprüche, die unseren Mindset ausdrücken. Einer dieser Claims sorgt bei neuen Mitarbeitern, Besuchern und Kunden für die meisten Fragezeichen. Er lautet: „Nachhaltigkeit ist das Problem, nicht die Lösung“.

Wir stoßen dabei auf die verbreitete, offenkundig völlig internalisierte und unangezweifelte Überzeugung, mit „Nachhaltigkeit“ sei eine Formel in der Welt, die unser zentrales zivilisatorisches Problem per se auflöst und ökonomischen Wohlstand mit einer heilen Umwelt und sozialer Sicherheit in Einklang bringt. Ein Zustand, der ein Garantieversprechen für eine gute Zukunft für uns alle enthält und das Schicksal kommender Generationen im Lichte unserer Glücksvorstellungen phantasiert. Und in der Tat werden wir medial ständig auf diese Grundüberzeugung hin getrimmt. Portale wie der UmweltDialog Newsletter oder das forum Nachhaltig Wirtschaften liefern uns regelmäßig die frohe Botschaft. Headlines der letzten Ausgaben waren z.B.:

  • Nespresso setzt auf nachhaltiges Aluminium
  • ALDI Ökogas beziehen und Klima schützen
  • Zukunftsfonds für eine nachhaltige Wende
  • MünchenerHyp emittiert ersten ökologischen ESG Pfandbrief
  • Nachhaltig Weihnachten feiern (oder wahlweise: Grünes Silvester – nachhaltig feiern)
  • Bayer bekennt sich zu Transparenz
  • „Deutschlands nachhaltigstes Großunternehmen 2019" ist der Hersteller für Duft- und Geschmacksstoffe Symrise.

Regelmäßig werden Unternehmen als „nachhaltig“ prämiert und mit großem Pomp und garniert von vorzugsweise Hollywood-Schauspieler-Prominenz dafür gelobt, dass sie es so wunderbar verstehen, ihre ökonomische Effizienzstrategie in der Sprache der Nachhaltigkeits- und Klimaschutz-Diktion darzubieten. Manchem Vertreter von KMU, die eine intrinsische Motivation zur ökologischen Verbesserung ihrer Produkte haben und an sich selbst hohe Maßstäbe anlegen, fühlen sich von diesem „Nachhaltigkeits-Theater“ ausgeschlossen und abgestoßen. Der Prokurist eines solchen Unternehmens, einer Weberei, schrieb uns jüngst:

„Seit Jahren werden wir trotz intensiver Bemühungen von den Medien aller Art ignoriert. Zu gut macht unbeliebt. Es gibt weltweit kein Unternehmen mehr, das so arbeitet wie wir. Wir sind von Anfang bis Ende Experten für Bio-Baumwolltextilien, flankiert von absoluter Transparenz und Nachvollziehbarkeit von A bis Z. Es ist machbar, wenn man will…. Mit unseren Geweben beliefern wir inzwischen viele mittelständische Firmen (auch Modelabels) europaweit und zunehmend auch darüber hinaus, die auf der sicheren Seite und nicht mehr angreifbar sein wollen. Wer das anstrebt, der kommt an uns nicht vorbei... Aus dem Textilbündnis sind wir ausgetreten. Man hat uns ignoriert, weil unser Niveau für die Schaumschläger schädlich ist.“

Just dieses Textilbündnis – d.h. die Seite der dort vertretenen Nichtregierungsorganisationen (NGO) – durften wir letztes Jahr an einem Punkt beraten, da die NGO-Vertreter nahe daran waren, das Bündnis von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller zu verlassen. Auch die NGO fühlten sich ignoriert mit ihren Ansprüchen an eine nachhaltige Kontrolle von Lieferketten und die Verbesserung der Sozialstandards in Produktionsländern wie z.B. Indien. Außerdem fühlten sie sich – völlig unnötig – in ihrer Kampagnenfähigkeit eingeschränkt durch die Mitarbeit im Bündnis. Während es allerdings für die zitierte Baumwollweberei sinnvoll gewesen sein mag, das Bündnis zu verlassen, wäre dies für die NGO wohl eher ein Fehler und Eingeständnis eigener Schwäche und Strategielosigkeit gewesen. Denn der Austritt der NGO-Seite hätte das gesamte Bündnis in Frage gestellt, aber die Verhandlungsposition der NGO nicht verbessert. Diese Position zu verbessern, würde von den NGO stattdessen erfordern,

  • im Bündnis flexibel zu sein, aber als bissige Kampagnenveranstalter die Medien und die Zivilgesellschaft auf ihre Seite zu holen und den Druck von außen auf das Bündnis zu erhöhen
  • das Projekt als „dickes Brett“ und Langzeitaufgabe zu betrachten, bei dem man mit Zähigkeit dranbleiben und auch mal Roll-backs einstecken muss, um jede neue sich bietende Chance zu nutzen
  • die Illusion über Bord zu werfen, dass in dem Bündnis alle Seiten wirklich dasselbe wollen; auch wenn alle sich auf „Nachhaltigkeit“ verpflichten, ist es nicht dasselbe, weder für die Seite der Produktionsfirmen und des Handels, noch für Verbände, Politik und Staat oder eben auch die NGO-Seite
  • ehrgeizige kleinere Unternehmen wie das oben genannte als Partner im Bündnis halten und mit ihnen zusammen die eigene Expertise in der Sache zu verbessern.

Dass die Textilbündnis-NGO im letzten Herbst so enttäuscht und nahe daran waren, hinzuwerfen, hat mit der eingangs erwähnten Illusion zu tun, Nachhaltigkeit sei eine Lösungsformel, die tatsächlich die Welten von Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft harmonisieren könne. Wir täten uns viel leichter, wenn wir die grundsätzlich unterschiedlichen Systemlogiken dieser drei Bereiche anerkennen würden und uns der Aufgabe stellten, unter diesen Bedingungen deren Zusammengänge und Schnittstellen zu optimieren – ohne jedoch z.B. zu glauben, dass die Spannungen und Widersprüche sich völlig auflösen lassen. Aus dieser Perspektive heraus kann es dann z.B. weder in der Landwirtschaft eine Produktionsweise geben, die im absoluten „Einklang mit der Natur“ steht noch im Wirtschaftsleben eine „Gemeinwohlökonomie“.

Zugegeben, das zerstört unsere Neigung zu rigorosen Lösungen und „Heilsformeln“. Ohne diese auszukommen, scheint die evolutionäre Herausforderung für unser Denken und die Organisation der Gesellschaft zu sein. Nachhaltigkeit ist unser Problem und wird unser Problem bleiben.