Brennpunkt Nachhaltigkeit

In der stratum lounge treffen Menschen auf Themen, Worte auf Emotionen, Autor(inn)en auf Leser(innen). Hier bildet sich der aktuelle Nachhaltigkeits-Diskurs ab und Transformationswissen wird lebendig. Diskutieren Sie mit, um die Welt zu verstehen. Bilden Sie sich eine Meinung oder lassen Sie sich verunsichern. Helfen Sie mit, die Dinge auf den Punkt zu bringen.



Wie ernähren wir den postfossilen Planeten? Landwirtschaft im Klimawandel

Am 04.09.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

Die präfossile Landwirtschaft in Europa war eine harte Zeit: „Statt malerischer Idyllen sollten wir uns die brutalen Zustände vor Augen halten. Das Leben der Landbevölkerung in Europa war von Überarbeitung geprägt. Große Familien, hohe Kindersterblichkeit, Analphabetismus, periodischer Hunger. Die Lebensverhältnisse waren miserabel – enge Katen aus Holz, gestampfter Lehmboden, offenes Feuer, Plumpsklo und schummrige Talglichter, um die Winterabende zu überstehen. Bis in das 20. Jahrhundert hinein war die bäuerliche Existenz für die meisten nichts als harte Arbeit, bei einförmiger Ernährung“, schildert uns Andreas Springer-Heinze in seinem Buch über die Agrarwirtschaft eindrücklich die früheren Lebensverhältnisse auf dem Land. 

 

Nicht nur die sind heute überwunden, auch weltweit hat die Agrarwirtschaft mit dem Wachstum der Bevölkerung Schritt gehalten, so dass „heute im Durchschnitt mehr Nahrung pro Kopf der Weltbevölkerung vorhanden ist als je zuvor“. Sowohl die Bodenproduktivität wie auch die Arbeitsproduktivität der Landwirtschaft ist global auf einem Höchststand. Der ökologische Preis dafür ist indes hoch, wie der Autor uns vor Augen hält:

  • Die Agrarwirtschaft hat einen Anteil von rund 30 % an den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen.
  • 69 % des zugänglichen Süßwassers werden in der Landwirtschaft verbraucht.
  • Intensive Landwirtschaft verwendet übermäßige Mengen an Stickstoffdünger. Nitrat reichert sich im Grundwasser an. Es verursacht Algenblüten in Seen und im Meer, durch die der Sauerstoffgehalt des Wassers gefährlich abnimmt.
  • Die Rodung von Tropenwald geht auf Kosten von Ökosystemen hoher Biodiversität. Berichte über Entwaldung erreichen uns von überall – von Brasilien und Mexiko über Madagaskar, Indonesien bis nach Neuseeland.
  • Die ungeregelte Entsorgung von Kunststoff in der Landwirtschaft produziert unendliche Mengen Abfälle.

Das Agrarsystem scheint an natürliche Belastungsgrenzen zu stoßen, so dass wir uns mit der Frage beschäftigen müssen, wie eine nachhaltige Agrarwirtschaft in einer postfossilen Gesellschaft aussehen könnte. Längst gibt es in politischen Programmen und globalen Agenden der nachhaltigen Entwicklung dazu zwar Zielvorstellungen und utopische Beschreibungen der notwendigen „Großen Transformation“, aber Andreas Springer-Heinze, der lange Jahre in der Entwicklungshilfe gearbeitet hat, bezweifelt deren Wert. Denn „Utopien taugen nicht als Planungsgrundlage“, wie er schreibt. 

 

Stattdessen sollten wir anerkennen, dass

  • die Agrarwirtschaft nur systemisch anstatt linear zu verstehen ist als Zusammenwirken einer Vielzahl von Akteuren, Interessen, Bedingungen und Rückkopplungen
  • die Entwicklungen evolutionär erfolgen ohne zentrale Steuerungsmöglichkeiten, so dass auch dadurch der Wandel keine lineare Wirkungsrichtung erzeugt, sondern einen wechselseitigen kausalen Prozess.

Wir werden also nicht den Schalter einfach umlegen können von einer „nicht-nachhaltigen“ zu einer „nachhaltigen“ Landwirtschaft. Stattdessen betont der Autor: „Das Prinzip der Evolution heißt Anpassung. Da die Klimaerwärmung nicht aufzuhalten ist, wird sich die Agrarwirtschaft wohl oder übel anpassen müssen. Anpassung ist der eigentliche Treiber der Transformation.“

 

Anstatt Vorstellungen von einem radikalen Wandel und Systemwechsel zu kultivieren, empfiehlt uns Andreas Springer-Heinze erst einmal festzulegen, was als Minimalbedingungen einer positiven Entwicklung anzusehen wäre – im Sinne einer Definition dessen, was nicht geschehen darf. Denn: „Es ist leichter zu sagen, was man nicht will, als zu entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Ob eine postfossile Agrarwirtschaft zugleich eine postkapitalistische sein musste, bleibt offen". Denn es komme ja darauf an, „Konsens unter möglichst vielen herzustellen. Es ist kontraproduktiv, den Anspruch zu überdehnen“. In diesem Sinne würde es ausreichen, einige Maximen festzulegen, an denen sich die Akteure einer postfossilen Agrarwirtschaft (Unternehmen, Politik, Landwirte, Verbraucher…) orientieren. Der Autor diskutiert drei konkrete Aktionsfelder für solche Maximen:

  • eine „klima-intelligente“, auf Digitalisierung setzende Agrarwirtschaft
  • die Förderung einer bodenunabhängigen und wassersparenden Form der Landwirtschaft
  • den Ausbau der Wertschöpfung für CO2-Senken.

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20:80 – Klimaschutz nach dem Möglichkeits-Prinzip

Am 11.09.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

Immer wieder beklagen wir den „Knowing-Doing-Gap“, also den deutlichen Unterschied zwischen Wissen und Handeln, gerade auch wenn es um umweltfreundliches, klimaschützendes und nachhaltiges Verhalten geht. Auch die Autoren des Buches „Klimakurve kriegen“ haben sich von mit diesem scheinbaren Paradox befasst und sie schlagen uns einen Ausweg vor. Peter Blenke und Christian Reisinger vermuten, dass das Lähmende am „Knowing-Doing-Gap“ die Tatsache ist, dass wir das Ganze aus dem „Problemblickwinkel“ angehen anstatt aus einer „Möglichkeitsperspektive“. 

 

Als Praktiker der Unternehmensführung sind sie zudem Anhänger des Paretoprinzips. Dieses Prinzip besagt, „dass wir mit 20 Prozent des Aufwands bereits 80 Prozent eines Ziels erreichen können. Und das, so Blenke/Reisinger, gelte „auch für das Thema Klimaneutralität: Wenn jede und jeder Einzelne nur jeweils 20 Prozent Aufwand investieren würde, wären bereits 80 Prozent der Strecke zum Ziel geschafft“.

 

In ihrem mit zahlreichen anschaulichen Infografiken bebilderten Buch handeln Sie diese prinzipielle Sicht auf das Klimaproblem, pardon auf die Klimamöglichkeiten in den fünf Sektoren ab, an denen sich auch das deutsche Klimaschutzgesetz orientiert - Energie, Industrie, Gebäude, Verkehr sowie Ernährung und Landwirtschaft. Als zusätzliches Handlungsfeld betrachten die Autoren die Potenziale natürlicher und technischer CO2-Senken.

 

Blenke und Reisinger appellieren mit ihren zahlreichen pragmatischen Vorschlägen aus der Möglichkeitsperspektive sowohl an die staatliche Seite als auch an die Unternehmen und die privaten Haushalte. Dabei haben sie zwar Verständnis dafür, dass sowohl Unternehmen als auch die Privathaushalte oft suboptimale rechtliche und regulatorische Rahmenbedingen vorfinden. Dies könne aber „keine Entschuldigung dafür sein, dass Unternehmen nicht auch ohne den Staat bereits viel tun könnten – und davon oftmals auch langfristig profitieren würden“. Und auch die „Privatpersonen müssen nicht auf die idealen Rahmenbedingungen warten. Schon jetzt können sie einen Beitrag zum Klimaschutz im Energiesektor leisten, selbst erneuerbare Energie erzeugen und den eigenen Energieverbrauch senken“. 

 

Im privaten Bereich sei z.B. eine der „effektivsten Maßnahmen, konventionelle Thermostate ganz einfach durch intelligente Heizungsthermostate zu ersetzen. Das kann zehn bis 20 Prozent Heizkosten sparen und stellt eine der wenigen Maßnahmen dar, die auch für Mieter umsetzbar sind“. Auf dem Verkehrssektor plädieren die Autoren für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen als kostenfreier und hoch effektiver Maßnahme, um 2 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr einzusparen. In der Landwirtschaft habe man zwar einen großen Teil des sektoralen CO2-Einsparziels schon erreicht, stehe aber vor der Herausforderung, eine weitere Überlastung und Verschlechterung der Böden zu verhindern, die auch eine wichtige natürliche CO2-Senke darstellen.

 

Der positive Blick, den das Buch „Klimakurve kriegen“ beibehält, liegt zu einem wesentlichen Teil auch darin begründet, dass die Autoren das Zusammenwirken zahlreicher Einzelvorschläge im Blick behalten und darauf pochen, dass unterschiedliche Maßnahmenfelder auch besser aufeinander abgestimmt werden und neue verlässliche Infrastrukturen aufgebaut werden könnten. Und da wo es nötig ist, benennen sie auch klare (politische) Defizite, beispielsweise bei der Höhe des CO2-Preises. Der müsste wesentlich höher liegen, um eine echte Steuerungswirkung zu erzielen. Blenke/Reisinger stellen fest: „Ein Liter Diesel müsste somit aus rein ökonomischer Perspektive zwischen 0,63 Euro und 2,14 Euro teurer sein als aktuell, um tatsächlich die externen Kosten im Preis zu berücksichtigen.“

 

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Aufhören, Monopoly zu spielen. Wie Unternehmen die Welt nachhaltig verändern könnten

Am 30.09.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

Angesichts der erkennbaren planetaren Grenzen unseres heutigen Wirtschaftens und Wachsens beklagt der Volkswirt, Manager und Organisationsberater Frank Thun die „unerhörte Ambitionslosigkeit der heutigen Unternehmen“. Die allermeisten Unternehmen spielten heute immer noch Monopoly. „Sie spielen, auch organisatorisch gesehen, ein Spiel des Besitzes. Des Habens und des Nichthabens. Der Macht und der Ohnmacht. Des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers. Des Gewinns und der Kosten. Eine Welt des Geldes, der Quantität. Es ist die Welt der einfachen Erklärungen, der vielen Güter und der wenigen Werte, der wenigen Gewinner und der vielen Verlierer.“ Der Autor des Buches „Unternehmen in Grün“ hält das für – ökologisch ebenso wie sozial – ruinös.

 

Zumal längst bekannt ist, wie es anders gehen könnte. Wie man Unternehmen so führen kann, dass es einerseits nicht nur um Profit geht, und andererseits nicht eine Managementhierarchie allein über die Organisation bestimmt. Ausführlich benennt Thun die Organisationsprinzipien und Managementmethoden, die schon heute von progressiven Unternehmen genutzt werden, um Macht demokratisch zu verteilen, Selbstorganisation zu fördern und zielgerichtetes Handeln im Unternehmen zu verbreitern

 

Damit Unternehmen auf ganzer Linie zu Bewahrern unserer ökologischen Lebensgrundlagen werden und auch sozial lebensdienlich operieren, müssen für Frank Thun allerdings drei Voraussetzungen erfüllt sein:

  1. Die Unternehmen müssen sich selbst Ziele setzen, die das gesellschaftlich Wünschenswerte ebenso hoch bewerten wie den Profit.
  2. Der Staat muss viel fordernder auftreten und der Wirtschaft „sektorale und sogar unternehmensspezifische Missionen“ vorgeben, die nachhaltige Ziele verfolgen.
  3. In den Unternehmen müssen interne „Wächter“-Funktionen etabliert werden, um eine demokratische Kontrolle und Legitimierung des Unternehmenshandelns zu ermöglichen.

Der Autor betont, dass dies keinem Systemwechsel in Richtung planwirtschaftlicher Steuerung entspräche, sondern in jeder Hinsicht nur eine Erweiterung und konsequente Fortsetzung bestehender Ansätze. Ein stärkeres staatliches Engagement zum Beispiel sei nichts grundsätzlich Neues. Thun schreibt dazu: „Ohne Zweifel bedeuten Missionen eine aktivere Industriepolitik, als wir das bisher in Deutschland gewohnt sind. Aber Frankreich, Japan und China betreiben seit Jahrzehnten eine sehr viel aktivere Industriepolitik als Deutschland, und auch die USA unter Joe Biden und die EU unter Ursula von der Leyen sind in den letzten Jahren deutlich wahrnehmbar auf diesen Pfad eingeschwenkt.“

 

Und veränderungsbereite Unternehmen praktizieren heute bereits das, was unter dem Schlagwort “neoinstitutionalistische Organisationstheorie“ als Klammer sozial verantwortlicher Managementpraktiken diskutiert wird. Dazu gehört z.B. die Ablösung von Managementhierarchien durch sogenannte Kreisorganisationen, die „eine Fusion aus Hierarchie, Demokratie und selbstorganisiertem Netzwerk“ darstellen. Was nötig ist, um aus solchen Ansätzen ein umfassendes „ethisches Wirtschaftssystem“ entstehen zu lassen, erläutert Frank Thun an diesem Abend. 

 

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Mehr soziale Innovation, bitte! Social Enterprises braucht das Land…

Am 15.10.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

Der globale Wohlstand steigt. Trotz aller regionalen Krisen und Rückschläge pushen technische Innovationen und billige Energie die ökonomische Entwicklung weltweit. Daraus den Schluss zu ziehen, dass der technische Fortschritt allein die Welt zu einem besseren Ort macht, sei jedoch ein Irrtum – stellen Michael Wunsch und Birgit Heilig in ihrem Buch über soziale Innovation fest. 

 

Im Gegenteil – sogar das, was wir als Fortschritt im Zeichen der Nachhaltigkeit ansehen, z.B. die E-Mobilität führe nur zu einer Problemverschiebung und zu weiterer Überlastung von Ressourcen (ökologischen wie sozialen): „Die alternativen Elektroautos lösen das Emissionsproblem und teilweise die Abhängigkeit von Erdöl, aber die in den Akkus enthaltenen Metalle, insbesondere Lithium, können nur unter Belastung der Umwelt abgebaut werden (von den teils menschenunwürdigen Bedingungen ganz zu schweigen).“ Und auch „Straßen und der öffentliche Raum werden kein bisschen entlastet, wenn statt eines Verbrennerautos nun ein E-Auto den gleichen Platz einnimmt“. 

 

Deshalb plädieren die Autoren dafür, mehr Augenmerk auf soziale Innovationen zu legen und die Chance zu nutzen, sie gezielt voranzutreiben. Tatsächlich steigt die Aufmerksamkeit für dieses Thema, seit soziale Problemlösungen immer häufiger von Social Entrepreneurs entwickelt und umgesetzt werden – also von Menschen, die innovative Ansätze zur Überwindung gesellschaftlicher Probleme mit unternehmerischem Denken angehen, anstatt dieses Terrain staatlichem oder ehrenamtlichem Engagement allein zu überlassen. 

 

Michael Wunsch und Birgit Heilig stellen uns die Aktionsfelder und Arbeitsprinzipien von Social Entrepreneurships vor und berichten, wie dieser Handlungsansatz auch zunehmend in konventionelle Unternehmen und sogar in die öffentliche Verwaltung vordringt

 

An konkreten Beispielen wie dem Wuppertaler Sozialunternehmen „Apeiros“, das ein digitales Früherkennungskonzept für potenzielle Schulverweigerer und ein darauf aufbauendes Förderungssystem entwickelt hat, rechnen die Autoren vor, dass solche Lösungen die staatlichen Sozialsysteme finanziell spürbar entlasten könnten. Das Problem dabei ist: „All diese wirtschaftlichen Vorteile werden allerdings bisher kaum genutzt. Die Unterstützung von Sozialen Innovationen und Social Enterprises in Deutschland steckt noch immer in den Kinderschuhen“. Mit ihrem Buch und dem Engagement im Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland (SEND) möchten Michael Wunsch und Birgit Heilig dazu beitragen, dass sich das in Zukunft ändert.

 

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Change war gestern. Heute ist Transformation. Und wir brauchen: Sustainability Leadership!

Am 24.10.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

Sowohl die klassischen Methoden des Managements als auch die zunehmenden Anforderungen einer formalisierten Nachhaltigkeits-Berichterstattung fördern die Ansicht, man könne ein Unternehmen dadurch nachhaltig aufstellen, indem man einen linearen und sachlogischen Prozess startet. Eine Unmenge von Nachhaltigkeitsratgebern unterstützen diese Auffassung.

 

Dem wollen die Autoren des soeben in der Reihe „essentials“ bei Springer-Gabler erschienen schlanken Bändchens über „Sustainability Leadership“ nun ein Stoppschild entgegenstellen. Wolfgang Zimmermann, Felix Richter und Andre Stuer kennen aus ihrer einschlägigen Beratungs- und Organisationsentwicklungspraxis die Schwachstellen des linearen Vorgehens:

  • Man steckt so viel Aufwand in die Analyse, dass für die Umsetzung viel zu wenig Ressourcen bleiben („Paralyse durch Analyse“).
  • Nachhaltigkeit bleibt letztlich unverbunden mit der Identität und Realität des Unternehmens und fristet ein Reißbrettdasein; oft wird das Thema auch aus der Führungsebene in die Stäbe verlegt, wo sich dann auf verlorenem Posten stehende Nachhaltigkeitsmanager vor allem mit Berichtssystemen herumschlagen.
  • Es werden hohe Ziele und umfassende Nachhaltigkeitskataloge erarbeitet, die unfinanzierbar sind und keine Relevanz für die Geschäftspolitik haben.
  • Ausdifferenzierte, langwierig in vielen Schleifen abgestimmte und detaillierte Umsetzungspläne sind längst überholt, wenn sie endlich fertiggestellt sind.

Es geht Zimmermann/Richter/Stuer jedoch nicht nur um diese Kritik, sondern in erster Linie wollen sie Führungskräften „ein Stück Zuversicht“ vermitteln und aufzeigen, welche Art von Führung und Management in mittelständischen Unternehmen erfolgreich ist, wenn es darum geht, Nachhaltigkeit strategisch zu verankern. Dazu gehört es z.B., sehr viel stärker das soziale Umfeld des Unternehmens in den Blick zu nehmen und Stakeholder-Kommunikation als wesentliche unternehmerische Führungsaufgabe zu verstehen, anstatt dies der PR-Abteilung zu überlassen.

 

Die Autoren stellen – auch anhand von Interviews mit nachhaltig erfolgreichen CEOs – dar, wie sustainable leadership in der Praxis vorgeht. Der selbstverständliche Umgang mit dem „Nichtwissen“ spielt dabei ebenso ein wichtige Rolle wie die Bereitschaft zum ergebnisoffenen Experimentieren und zum schnellen Aufgreifen ungeplanter, „zufälliger“ Chancen. Statt linear denken diese Führungskräfte zirkulär und sind offen für Ambiguitäten, also Widersprüche und scheinbar Unvereinbares. Ihnen ist außerdem bewusst, dass sie vor allem durch Kommunikation in ihrem Unternehmen wirksam werden und nicht durch Anordnung und formale Prozesse. Stattdessen zeigen „Führungskräfte, die etwas bewegen wollen, … Chancen und Perspektiven auf“. Sie verstehen Nachhaltigkeit als unternehmerische Chance, nicht als Risiko.

 

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Unternehmen transformieren: Wie es wirklich geht

Am 05.11.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

Was tut man heute nicht alles, um Unternehmen – von innen und außen – zu transformieren! Da wird New Work eingeführt, das Management agilisiert, am Mindset der Mitarbeitenden gearbeitet, werden „Silos“ aufgelöst und Hierarchien abgeschafft. Doch abgesehen davon, dass sich das Stresslevel bei allen Beteiligten erhöht, verändern alle diese Managementkonzepte kaum etwas. Woran liegt es?

 

Die Unternehmensberaterin Christina Grubendorfer vermutet: Es liegt daran, dass alle diese Konzepte mehr den Charakter von modernen Mythen haben, die es uns leicht machen, die Auseinandersetzung mit der Realität zu vermeiden. Diese Mythen seien „in Führungskreisen immer gerne gesehen, weil sie Trost versprechen“ und verhindern, dass Unternehmer und Führungskräfte sich ihrer „Überlebensangst“ stellen.

 

Wer Organisationen wirksam verändern, anpassungsfähiger, flexibler und nachhaltiger machen möchte, müsse Organisationen erst einmal verstehen, so Grubendorfer. In ihrem 368 Seiten dicken Buch „The Real Book of Work“ versucht die Autorin unsere Verstehensfähigkeit dadurch zu verbessern, dass sie mit systemischem Blick sowohl auf die Schwachseiten der diversen Management-Mythen als auch auf die grundlegende Funktionsweise von Unternehmen und Organisationen blickt. Und sie schafft es, das in einem lockeren Ton und in anschaulicher Weise zu bewerkstelligen, so dass die Dicke des Buches ihren Schrecken verliert.

 

Zwei wesentliche Einsichten dürften mindestens beim Lesen hängenbleiben:

  • Erstens sind Unternehmen und Organisationen ganz andere Systeme als die Familie. Die Funktionslogiken beider Systeme sind völlig verschieden, in Familien steht der Einzelne im Mittelpunkt, Organisationen hingegen sind sachorientiert.
  • Organisationen lassen sich zweitens nicht nach einheitlichen Prinzipien ausrichten, sie sind im Gegenteil vor allem „deshalb so erfolgreich, weil sie es schaffen können, widersprüchlichen Anforderungen gerecht zu werden. Sie können agil und gleichzeitig hierarchisch sein, sie können innovativ und gleichzeitig konservativ sein, sie können personenorientiert und gleichzeitig aufgabenorientiert sein“.

In Organisationen kann also niemals „der Mensch im Mittelpunkt“ stehen, genauso wenig wie ein Unternehmen sich über „Werte“ führen lässt. Warum? „Werte eignen sich prima, um große Scharen von Menschen dahinter zu versammeln. Aber auch nur deshalb, weil sich jeder selbst ein Bild davon machen kann, wie es konkret gemeint ist. Werte haben es immer dann schwer, wenn sie handlungsleitend sein sollen. Heißt Freiheit nun, dass jeder machen kann, was er will, zum Beispiel mit dem Porsche mit 240 über die Autobahn brettern? Oder heißt Freiheit, auf das Leben anderer Menschen Rücksicht zu nehmen und lieber sein Auto abzuschaffen?“ Christina Grubendorfer zieht aus dieser Überlegung den Schluss: „Statt sich hinter Werten zu verstecken, die nicht kritisierbar sind, müssten wir uns mehr streiten, und zwar auf höchstem Niveau.“

 

Aus systemischer Sicht kann es auch gar kein konfliktfreies Unternehmen geben, denn: „Organisationen teilen ihre Arbeit auf verschiedene Bereiche auf und stellen dadurch sachliche Konflikte auf Dauer. Der Vertrieb wird sich immer mit der Produktion über Machbarkeit, Margen und Qualitäten streiten. Es stecken in Organisationen viele Konflikte, sie sind einprogrammiert und auch nicht wegzubekommen. Das zu wissen, erleichtert vieles und entlastet die Personen, die diese Konflikte stellvertretend austragen. ‚Silodenken‘ beispielsweise ist zu Unrecht nur negativ aufgeladen. Es ist notwendig und nützlich für das Funktionieren eines Unternehmens. Es braucht Konflikte, um zu intelligenten Entscheidungen zu kommen. Für Unternehmen stellt es eher ein Problem dar, keine Konflikte zu haben.“

 

Was bedeutet eine solche Sicht auf Unternehmen und Organisationen für adäquates Führungshandeln und Managen? Christina Grubendorfer gibt darauf praktische und differenzierte Antworten, die alle vorherrschenden Management-Moden entzaubern.

 

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Braucht Nachhaltigkeit die Kunst? Oder warum sind Recyclinghöfe keine Kulturzentren?

Am 20.11.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

Wenn von Kunst im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit bisher die Rede war, so ging es meistens darum, den Kunstbetrieb möglichst klimaneutral und materialeffizienter zu machen. Zuweilen bedienen sich Nachhaltigkeits-Protagonisten aus Wissenschaft und Politik außerdem künstlerischer Formen als eine „Art von Hochglanzverpackung für ihre vordefinierten Inhalte“, stellt der Schauspieler und Soziologe Manuel Rivera in seinem Buch „Kultur in der Klimakrise“ fest. 

 

Dabei könnte der Beitrag von Kunst und Kultur zu einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung ein ganz anderer, bedeutsamerer und wesentlicher sein. Rivera plädiert dafür, diese Beiträge zu verstärken und das „aktuelle Nachhaltigkeitserwachen der Kulturwelt“ zu nutzen – nicht zuletzt auch dafür, die blinden Flecken des gängigen Nachhaltigkeits-Narrativs zu erhellen.

 

So bemängelt der Autor z.B. am klassischen Denkansatz der Nachhaltigkeit, wie er seit den „Grenzen des Wachstums“ (Club of Rome) tradiert wird, dass es dabei um „eine Kontinuität des Weiterwirtschaftenkönnens innerhalb ökologischer Grenzen“ gehe, wo doch viel mehr ein „ganz anderer Blick auf die Natur“ erforderlich wäre. Nachhaltigkeit werde bei uns viel zu sehr von „streng wissenschaftlich, ja technisch denkenden Menschen“ definiert“ und von einer Effizienzlogik beherrscht, die Natur und Kultur einseitig betrachtet. Tatsächlich haben wir es jedoch, so Rivera, zu tun „mit einer belebten Natur, die auf vielen Ebenen sehr ineffizient operiert“ sowie mit „kultisch-festlichen Ursprüngen der künstlerischen Kreation, die per definitionem in Exzess und Verschwendung liegen“. Gibt es also vielleicht sogar eine luxuriös-verschwenderische Nachhaltigkeit?

 

Wenn Kunst ihre genuine Kraft in den Nachhaltigkeitsdiskurs einbrächte, dann könnte sie beispielsweise „durch ihre imaginative Komponente zur Futurisierung beitragen“, also zur Vergegenwärtigung von Zukünften, ebenso wie dazu, „das Bestreben nach Gerechtigkeit mit jenem nach Schönheit zusammenzuführen“. 

 

Den wesentlichen Faktor, durch den Kunst die Nachhaltigkeitserzählung bereichern könnte, sieht Rivera in der Interaktion und Verständigung zwischen Menschen und Welten, also in sozialen Verständigungsprozessen, die z.B. im globalen Maßstab als transurbane Begegnungen oder hierzulande durch neue Stadt-Umland-Beziehungen entstehen. Rivera: „Künstler können hierzu beitragen, weil viele von ihnen eine bestimmte Art Neugier mitbringen, die sich weit über die eigene Spezialisierung hinaus erstreckt. Und weil sie fähig sind, Atmosphären zu generieren, in denen auf eine andere Art und Weise Verständigung möglich wird. Z. B. gibt es bereits seit 2011 eine schöne Initiative des Vereins MitOst e. V. und der European Cultural Foundation, das Tandem for Culture“. Oder den von Adrienne Goehler und Manuel Rivera zusammen mit anderen geforderten Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit, der „raus aus den Echokammern“ führen möchte.

 

Tatsächlich befürchtet Rivera gerade durch die Verbreitung eines nachhaltigen Lebensstils in unserer Gesellschaft eine, wie er es nennt, „mentale Suburbanisierung“. Rivera beschreibt sie so: „Wenn ich in meinen urbanen Garten gehe oder wenn ich Grün auf dem Dach habe oder Solarzellen oder wenn ich mir mit Nachbarn die Waschmaschine teile, dann habe ich schon Nachhaltigkeit. Diese Einschränkung des Horizonts im Sinne einer (illusionären) Autarkie, diese mentale Suburbanisierung oder Verdörflichung wäre eher Teil des Problems als seiner Lösung.“

 

Neben gemeinsamen Räumen, in denen Wissenschaftler und Künstler auf Augenhöhe und mit transdisziplinären Ansätzen zusammenarbeiten, schlägt der Autor vor, nach dem Chemnitzer Vorbild „Nimm Platz!“ in den Städten neue kulturelle Orte und Kooperationen zu fördern und die Funktionalität städtischer Facilities kulturell auszuweiten: „Warum sind Recyclinghöfe keine Kulturzentren?“

 

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Tu was für das Wasser! Was Artenschutz und Hochwassergefahr mit unserem täglichen Leben zu tun haben

Am 06.12.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

Clemens Kuhnitzsch hatte schon als Kind eine besondere Beziehung zum Lebensraum und -element Wasser. Als Siebenjähriger wünschte er sich von seinen Eltern einen Teich; er bekam einen kleinen 150-Liter-Teich zur Bewirtschaftung. Mit zwölf Jahren kümmerte er sich schon um eine Lebenswelt in 1.000 Litern und mit 15 war er verantwortlich für einen 70.000 Liter fassenden Schwimmteich mit seiner speziellen Tier- und Pflanzenwelt. Das Thema ließ ihn nicht mehr los. Jetzt hat er ein Buch über die Liebe zu Flüssen, Bächen und Gewässern geschrieben, das voller überraschender Fakten und Zusammenhänge ist, die uns vor Augen führen, was wir alle und alles dafür tun können, unsere wichtigste Lebensgrundlage zu erhalten.

 

Es gab eine Zeit, da konnte man „bedenkenlos aus den Bächen und Flüssen unserer Heimat“ trinken. Der studierte Hydrobiologe Kuhnitzsch kann sich vorstellen, dass kommende Generationen dies auch wieder tun könnten. Auch wenn „unsere Flüsse und Bäche global gesehen die am meisten gefährdeten Ökosysteme“ heutzutage darstellen und sowohl unter Verbauung und Übernutzung als auch unter den massenhaften Einträgen von Schadstoffen, Mikroplastik und Chemikalien leiden.

 

In seinem Buch „Horch mal, was da rauscht! Flüsse, Bäche und ihre Geheimnisse“ versammelt der Autor, der als Berater für Städte und Kommunen zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) tätig ist, nicht nur eine Fülle von praktischen Vorschlägen, was wir als Privatpersonen ebenso wie als Grundstückseigentümer oder als kommunalpolitisch Verantwortliche für den Gewässerschutz tun können. Er bietet uns auch ein Wissen an, das uns ein neues Wasserbewusstsein begründen kann. Denn wer weiß denn schon, dass

  • die Entnahme von Totholz das Leben unserer Gewässer gefährdet
  • die Grundwasserströme einen engen Kontakt und Austausch mit Flüssen, Bächen und Seen haben
  • Wasserkraftanlagen mehr zum Treibhauseffekt beitragen als durch die Energiegewinnung an CO2 eingespart wird
  • Hormone aus Medikamentenrückständen in Gewässern Bachforellen verweiblichen lassen und Aale durch Kokainreste am Laichen gehindert werden?

Die verheerenden Folgen von Flussverbauungen und fehlenden Flussauen und Bruchwäldern in der Landschaft erfahren wir derzeit im Zusammenhang mit Hochwasser- und Starkregenereignissen. Vielleicht erhöht das unsere Sensibilität gegenüber dem Thema Gewässerschutz. Das Buch von Clemens Kuhnitzsch möchte dazu beitragen, diese Sensibilität in ein neues, umfassenderes Wasserbewusstsein zu verwandeln, das unsere Einstellung und unser Verhalten tatsächlich verändert.

 

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Ende der Nachhaltigkeit – Warum die ökoemanzipatorische Transformation nicht stattfindet und unsere Gesellschaft dennoch nicht untergeht

Am 16.12.2024 um 19 Uhr in der stratum lounge

„Ende oder Wende“ könnte man das ökoemanzipatorische Projekt (ÖEP) übertiteln, das in den letzten fünfzig Jahren zunehmende Breitenwirkung entfaltet hat. Und dennoch scheint die Alternative falsch zu sein. Weder Ende noch Wende sind eingetreten. Der Soziologe Ingolfur Blühdorn hat dafür Erklärungen und führt uns in seinem neuen Buch „Unhaltbarkeit“ an den Rand der derzeitigen spätmodernen Gesellschaft, wo sich Wege in eine andere Moderne auftun, in der das transformative Nachhaltigkeitsnarrativ bedeutungslos sein wird.

 

Der Grund dafür liegt zum einen in der faktischen Erfolgs- und Wirkungslosigkeit des ökoemanzipatorischen Projekts: „Ökologisch gesehen sind die lange beschworenen Kipppunkte erreicht (z.B. beim Permafrost)“, schreibt Blühdorn, doch „die Politik scheint weitgehend hilflos. Klimagipfel führen zu keinen nennenswerten Ergebnissen. Sogenannte Green New Deals fördern bestenfalls die Wirtschaft, entfalten ökologisch aber kaum transformative Kraft.“

 

Ein zweiter Grund liege jedoch auch an der eigenen Logik und den inneren Widersprüchen des ÖEP. Blühdorn führt an, dass z.B. die Idee, wonach das Überschreiten nicht verhandelbarer „planetarer Grenzen“ zur Unbewohnbarkeit des Planeten führen und das Überleben der Menschheit gefährden könnte, eine regional sehr begrenzte, eben westliche Vorstellung ist. „Sie wird in anderen Teilen der Welt, wo man sich mitunter gerade am Anfang einer neuen eigenen Blütezeit sieht, so nicht geteilt.“ Und mehr noch enthalte die Idee der planetaren Grenzen, die im Gewand naturwissenschaftlicher Objektivität daherkommt, einen durchaus normativen Kern. Blühdorn expliziert, diese Idee bedeute nur, „dass wir in einer Gesellschaft und Welt, die diese Grenzen überschreiten, möglicherweise nicht leben wollen, weil das etablierten Normen und Erwartungen widerspricht, nicht aber, dass man in so einer Welt nicht leben könnte.“

 

Tatsächlich deute vieles darauf hin, dass heute die das Konzept der nachhaltigen Transformation ablösende neue Leitvorstellung von Anpassung und Resilienz genau auf so eine Welt hinführt, die uns der Soziologe als „dritte Moderne“ vor Augen führt: „In der dritten Moderne wird das Projekt der vernunftgeleiteten, kollektiven Kontrolle und Gestaltbarkeit zugunsten eines guten Lebens für alle in ökologischen Grenzen und des ewigen Friedens in der kosmopolitischen Gesellschaft vollständig zur Fiktion. Stattdessen wird die Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit mit allen Mitteln – gerade auch der Ab- und Ausgrenzung – verteidigt.“

 

Auf der individuellen Ebene führt die in der dritten Moderne geforderte Resilienz zu einem neobiedermeierlichen Rückzug ins Familiäre und Private: „Hatte die Umweltbewegung der achtziger Jahre noch einen Betroffenheitskult betrieben, geht es in der Spätmoderne also darum, sich vom Unabänderlichen möglichst nicht berühren zu lassen.“ Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Resignation oder extremem Pessimismus. Wie Blühdorn beobachtet, glaube „die jungen Generation zwar nicht mehr an das 1,5-Grad-Klimaziel oder das gute Leben für alle. Was ihre persönlichen Zukunftsaussichten anbelangt, sind junge Menschen aber durchaus positiv.“ Dieser Befund passt zu den parteipolitischen Präferenzen der Jüngeren, deren Neigung zu rechtsgerichteten Parteien viele bei der letzten Europawahl verblüfft hat.

 

Das für manche vielleicht Erschreckende, auf jeden Fall Faszinierende an den Analysen Blühdorns ist, dass sie die faktischen Transformationen unserer Zeit besser abbilden als die mit „anrührender Einfalt“ von der politischen Bildung/Nachhaltigkeitsbildung reproduzierten Glaubenssätze des ÖEP. Blühdorn geht in seinem Buch ausführlich auf die hard facts des gegenwärtigen Phasenübergangs ein, zu denen die enorme Anpassungsfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaft ebenso gehören wie die vielfach zu beobachtende autoritär-autokratische Wende in den politischen Systemen des Westens, die Überlegenheit Chinas als Kapitalismus ohne Demokratie oder die das autonome Subjekt ablösende Künstliche Intelligenz. 

 

Im Anschluss an den Vortrag von Ingolfur Blühdorn laden wir alle Besucher und unsere Kunden, Freunde und Stakeholder zu einem Get-together ein. Das gesamte stratum-Team wird mit dabei sein. Für Getränke und Snacks ist gesorgt.

 

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Menschen wollen arbeiten: Was Unternehmen dafür tun müssten

Am 17.01.2025 um 19 Uhr in der stratum lounge

Mit „Purpose“ und „New Work“ versuchen Unternehmen heute, als Arbeitgeber Attraktivität zu entfalten. Vor allem im Werben um die Generationen Y und Z sollen diese Konzepte verfangen. Die Personalabteilungen stellen sich darauf ein, dass viele der gesuchten Fachkräfte ihren beruflichen Erfolg heute nicht mehr nur am Gehalt messen, sondern daran, wer möglichst viel Urlaub und Freizeit bei seinem Arbeitgeber herausverhandelt hat und möglichst oft im Homeoffice arbeiten kann. 

 

Der Wirtschaftspsychologe Ingo Hamm, Professor an der Hochschule Darmstadt, befürchtet, dass die jungen Menschen damit in ein psychologisches Dilemma geraten. Er stellt fest, dass sie zwar ihre persönliche Selbstbestimmung über die klassischen Anreize – Gehalt, Status und Karriere – stellen, aber ohne zu wissen, was sie wirklich antreibt: „Sie verweigern die Möhre, ohne zu wissen, was sie stattdessen wirklich wollen. Sie wissen, dass sie kein Esel sein wollen – aber was dann?“

 

Die Herausforderung, persönlichen Sinn in der Arbeit zu finden, bestand allerdings auch in früheren Zeiten schon. In Umfragen sagten immer schon ca. 85 Prozent berufstätiger Menschen, dass sie nach einem sehr hohen Lottogewinn aufhören würden, zu arbeiten. Offenbar sahen sie keinen Sinn in beruflicher Arbeit. Was Ingo Hamm interessiert, sind aber die anderen 15 Prozent. „Wie verrückt ist das denn: Arbeit ist diesen Leuten wichtiger als mehrere Millionen Euro Lotto-Gewinn? Spinnen die?“, fragt der Wirtschaftspsychologe.

 

Im Gegenteil, so Ingo Hamm in seinem neuen Buch „Lust auf Leistung“. Diese Menschen haben verstanden, was in Zeiten der Work-Life-Balance-Diskussionen offenbar übersehen wird: Lebensglück und Selbstbestimmung liegt nicht im Vermeiden von Arbeit: „Es gibt das Glück bei der Arbeit nur – und wirklich nur – durch die Arbeit selbst.“ Aber warum sehen das die wenigsten so? Ist es wirklich nur die mangelnde Fähigkeit zur Selbstreflexion, wie der Autor an einer Stelle seines Buches zu unterstellen scheint?

 

Nein, ist es nicht. Ingo Hamm kommt zwar nicht umhin, auch das Individuum mit verantwortlich zu machen für dysfunktionale Verhaltensweisen, die uns unglücklich machen. Zum Beispiel dadurch, dass wir uns „häufig antreiben lassen von den Folgen einer Tätigkeit und nicht von der Tätigkeit an sich“. Aber was sein Buch interessant macht, sind die zahlreichen Hinweise darauf, was Unternehmen, Führungskräfte und HR-Abteilungen anders und besser machen können, um "keinen Fachkräftemangel, keine Motivationsprobleme, kaum X-Inefficiency, wenig Konflikte, wenig Absenz und wenig Fluktuation“ zu haben.

 

Hier in Stichpunkten die Task List für Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden mehr bieten wollen:

  • Individuelle Kompetenzen der Mitarbeitenden entwickeln und aktiv fördern statt sie – als Berater, Zeitarbeiter oder Interimsmanager – einzukaufen. Wobei die Betonung auf „individuell“ liegt. Hamm: „Wir brauchen HR-Abteilungen, die sich in die Niederungen der Rahmenbedingungen der Arbeit begeben, die individuelle Aus- & Weiterbildung in den Mittelpunkt stellen, auch wenn es Mühe macht.“
  • Flow-Bedingungen herstellen statt durch Belohnungen motivieren wollen. Menschen sind dann erfolgreich und zufrieden, wenn sie ihrem individuellen inneren Antrieb folgen können, auch im Beruf. Und das können sie dann, wenn man Ihnen erlaubt, ihren Aufgabenbereich soweit selbst zu gestalten, dass sie ihren eigenen Flow-Kanal erzeugen. Also wirksam sind in einem Bereich, der genau zwischen Unter- und Überforderung liegt. Das setzt voraus, dass man ihnen die Chance zum „Job Crafting“ gibt. Hamm: „Wer Job Crafting betreibt, nimmt seinen Beruf und sein Schicksal selbst in die Hand, geht an die Grenze seiner Aufgabenbeschreibung.“
  • Professionelles Value Management statt wohlklingender, aber hohler Ziel- und „Purpose“-Verlautbarungen. Mitarbeitende wollen in ihrer Tätigkeit auch ihre eigenen persönlichen Werte verfolgen. Deshalb ist es wichtig, im Unternehmen nicht nur über soziale Werte (das gesellschaftlich als das Gute Definierte) zu sprechen, sondern auch über die persönlichen Werte der Mitarbeitenden und der Führungskräfte. Hamm: „Es reicht eben nicht, wohlklingende Werte-Hauptwörter zu veröffentlichen. Was über die Werthaltung eines Unternehmens entscheidet, ist die faktische Ausfüllung dieser Substantive im Führungsalltag. Welche Werte bestimmten tatsächlich das Handeln von Management und Belegschaft?“

An praktischen Beispielen erläutert Ingo Hamm, was Unternehmen und Mitarbeitende tun können, um Arbeit (wieder) lieben zu lernen, wie es im Untertitel seines Buches heißt. Er formuliert damit ein Gegenprogramm gegen die gängige New Work-Ideologie, die viel dafür tut, „dass Arbeit nicht mehr nach Arbeit aussieht und sich vor allem nicht mehr danach anfühlt.“ Menschen wollen arbeiten, weil und wenn sie darin die Quelle ihrer Selbstwirksamkeit finden. 

 

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Nicht Wende, sondern Kehrtwende – „Earth for All“, wie es gehen könnte

Am 13.02.2025 um 19 Uhr in der stratum lounge

50 Jahre nach den Grenzen des Wachstums legt der Club of Rome wieder eine dringliche Warnung vor. In fünf Lebensbereichen gehe es jetzt nicht mehr um eine bloße Wende unseres Wirtschaftens und Lebens, jetzt sei die Kehrtwende in vielen Bereichen notwendig, um ein erträgliches Leben für alle Menschen dieses Planeten sicherzustellen.

 

Studentinnen und Studenten der Leuphana Universität (Lüneburg) haben zusammen mit ihren Professor(inn)en den „Survivalguide für unseren Planeten“ analysiert und sind zu dem Schluss gekommen: In dem Buch werden zwar die Ziele dargestellt, also was geschehen müsste, aber nicht das Wie. Deshalb tauge „Earth for All“ „nur bedingt als tatsächliche Überlebensanleitung“, sei zu vage und unkonkret.

 

Die jungen Leute von der Uni haben deshalb versucht, den großen Zielen konkrete Maßnahmen in ihrer Welt zuzuordnen: „Der Club of Rome hat uns den Ball zugespielt, wir greifen ihn auf und führen die Debatte im Konkreten, teils Regionalen fort.“ Auf allen fünf Aktionsfeldern diskutieren sie in dem von Ines Lietzke-Prinz und Steffen Farny herausgegebenen Buch „Wie genau die Welt retten?“ konkrete Politiken und setzen sich teils auch kontrovers mit dem Für und Wider von Maßnahmen auseinander, die eine Kehrtwende ermöglichen sollen. 

  • ARMUT: Sollen Entwicklungs- und Schwellenländer mit protektionistischen Maßnahmen ihre jungen Industrien schützen – wie das erfolgreiche Beispiel von Südkorea zeigt? Und wann ist eher eine Liberalisierung von Märkten für diese Länder erfolgversprechender? Die Studierenden kommen zu dem Schluss, dass eine grundlegende Infrastruktur in den sehr armen Ländern vorhanden sein müsste. „Ohne diese und ohne die notwendigen finanziellen Mittel wird es auch mit protektionistischen Maßnahmen nicht möglich sein, eine verarbeitende Industrie aufzubauen.“
  • UNGLEICHHEIT: Mit diesem Thema nähern sich die Autorinnen und Autoren der deutschen Realität. Sie wägen ab, ob eher ein einmaliges „Grunderbe“ oder ein laufendes „Grundeinkommen“ die sozialen Startchancen für die Bevölkerung auf ein gerechteres Niveau heben könnten. Während die Entscheidung in diesem Punkt eher für das Grunderbe ausfällt, sind sich die Studierenden nicht einig geworden, ob durch die Vergesellschaftung von Wohnraum die Ungleichheit auf dem Wohnungsmarkt tatsächlich beseitigt werden kann.
  • ERMÄCHTIGUNG: Mit diesem im deutschen Sprachraum etwas vorbelasteten Begriff wird das Maß der Gleichberechtigung in einer Gesellschaft thematisiert, wobei es vor allem, aber nicht nur um das Empowerment von Frauen geht. Die Studierenden diskutieren die Frage, ob die dazu nötige Machtumverteilung von den privilegierten oder eher von den nicht privilegierten Schichten ausgehen müsse. Auch hier sind sie sich nicht einig geworden, ob die Veränderungen eher mit Kampf (von unten) oder durch Verantwortungsbewusstsein (von oben) erreicht werden können.
  • ERNÄHRUNG: Um die industrialisierte Fleischproduktion mit ihren schädlichen Folgen für Klima, Umwelt und Mensch zurückzudrängen, sei ein „konsequenteres, resoluteres Eingreifen des Staates“ in den Markt erforderlich. Hier scheint es einen Konsens zu geben: „Was es braucht, sind mutige Regierungen.“
  • ENERGIE: In der Frage, wie die Energiekehrtwende zustandekommen soll, stehen sich hingegen wieder zwei grundsätzliche Positionen gegenüber. Während die einen insbesondere für einen technologischen Wandel und den konsistenten und priorisierten Ausbau grüner Energien plädieren, treten andere für politische, wirtschaftliche und individuelle Verhaltensänderungen ein und präferieren Suffizienzstrategien, also energiesparende Maßnahmen und einen insgesamt energieärmeren Lebensstil.

Erleben Sie am 13. Februar, wie die Generation der heute 20- bis 30-Jährigen mit der Challenge notwendiger gesellschaftlicher Veränderungen umgeht.

 

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Im Griff des Digitalkapitalismus – Gefährdet Datenmacht die Freiheit?

Am 05.03.2025 um 19 Uhr in der stratum lounge

Wir leben längst in einer Epoche des Kapitalismus, die sich um digitale Technologien und Daten herum aufbaut. Der Techniksoziologe Felix Sühlmann-Faul spricht von Digitalkapitalismus. Er sieht darin die Steigerung eines menschenverachtenden Verwertungsinteresses, das den Kapitalismus seit je bestimmte: „Was zuvor die Anpassung des Arbeitstaktes an die Dampfmaschine und später an die Geschwindigkeit der Laufbänder war, ist heute algorithmisches Management“.

 

Der Unterschied besteht allerdings darin, dass heute die beiden Seiten des Systems – die Tech-Konzerne und die App-Nutzer – einen auch für beide Seiten lukrativen Deal verabredet zu haben scheinen: kostenlose Apps und Dienste gegen persönliche Daten. Sühlmann-Faul sieht die Nutzer vom Amazon, Facebook, Google & Co. deshalb als Gefangene in einem goldenen Käfig und nennt sein aktuelles Buch „Der goldene Käfig des Digitalkapitalismus“.

 

Die permanente „Datenspende“ durch die App-User betrifft jedoch nicht nur persönliche, sondern meist auch „personenbezogene Verhaltens- und Metadaten, die wir unwillentlich und nicht spürbar bei jeder Nutzung des Internets oder von digitalen Endgeraten erzeugen“. Und dadurch erhalten die Tech-Konzerne eine Machtfülle, die ihre Schattenseiten hat, weil sie unsere Freiheits- und Persönlichkeitsrechte einschränkt. Felix Sühlmann-Faul befürchtet u.a.

  • die Marginalisierung von Sprachen: „Ein Großteil der Inhalte ist englischsprachig und stammt aus den USA und Westeuropa, was einen selbstverstärkenden Effekt von Ungleichheit erzeugt. 80 % der Inhalte des Internet sind 'weiß und westlich'.“
  • die Dehumanisierung von Entscheidungsprozessen, die durch den Einsatz künstlicher Intelligenz und die Verarbeitung von Big Data in automatisierten Prozessen entsteht; das verhindert nicht nur, dass Betroffene diese Prozesse nicht mehr nachvollziehen, geschweige denn beeinflussen könnten; es unterminiert auch die Privatsphäre und leistet Menschenrechtsverletzungen Vorschub. Der Autor zitiert einen Beispielfall: „Datenspuren wurden 2022 einer 17-Jahrigen in Nebraska zum Verhängnis, da der Meta-Konzern den Behörden u. a. durch Herausgabe von privaten Chatnachrichten Beweismittel lieferte. Das Mädchen hatte ihre Schwangerschaft mittels einer Abtreibungspille abgebrochen und wurde deswegen angeklagt.“
  • die Erosion des öffentlichen Sektors, indem „die Anpassung an die technikdeterministische Ideologie der Tech-Konzerne zum Beispiel beim Thema Gesundheitsdaten in Kombination mit der Unterfinanzierung öffentlicher Bereiche eine explosive Mischung [erzeugt], die es den Tech-Konzernen zusätzlich einfach macht, öffentliche Bereiche zu übernehmen und ihren Einfluss geltend zu machen.“ In den USA bestehe ja bereits heute schon eine enge Beziehung zwischen dem Staat und der Tech-Branche, die Technologien für staatliche Überwachung bereitstellt. 

Letztlich stelle diese Entwicklung eine grundlegende Gefahr für die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft dar. Sühlmann-Faul schreibt: „Vernachlässigen wir heute den Datenschutz, sehen wir ihn als lästig oder unnütz an, bedeutet das, dass künftige Generationen mit zunehmend weniger Grundrechten aufwachsen.“

 

Was wäre zu tun? Dass es systemisch betrachtet „eigentlich“ kein Entrinnen aus dem goldenen Käfig des Digitalkapitalismus gibt, ist dem Techniksoziologen bewusst, auch wenn er scherzhafterweise den Vorschlag für einen „geschlossenen Abzug der Bundesregierung zumindest von Twitter und Facebook“ ins Spiel bringt. Nein, was wir tun können, liegt allein bei jedem Einzelnen selbst: „Wir sind darauf zurückgeworfen, uns um unseren Datenschutz selbst zu kümmern und unsere Privatsphäre, so gut es eben unter den polit-ökonomischen Randbedingungen möglich ist, zu schützen.“ Dafür macht der Autor einige sehr praktische Vorschläge und stellt mit dem PRIVA SCORE eine von ihm selbst entwickelte Datenschutz-Ampel vor.

 

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Inklusion verändert die Gesellschaft – wenn wir es ernst meinen

Am 28.03.2025 um 19 Uhr in der stratum lounge

Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde im Jahr 2006 verabschiedet und 2008 von der deutschen Bundesregierung übernommen. Sie sollte einen Paradigmenwechsel einleiten. Die Verantwortung für die Inklusion sollte künftig nicht mehr bei den Menschen mit Behinderungen liegen, „die sich so anpassen müssen, dass sie zum Beispiel in der Schule oder Arbeitswelt integriert werden können, sondern die Schule bzw. Arbeitswelt muss so gestaltet sein, dass Menschen unabhängig von ihren körperlichen, geistigen, sinnlichen oder psychischen Voraussetzungen daran teilhaben können“. Jochen Mack untersucht in seinem Buch „Zusammen. Vielfalt. Leben!“, inwieweit dieser grundsätzliche Wandel in unserer Gesellschaft angekommen ist bzw. was wir noch tun sollten, um eine inklusive Gesellschaft zu werden.

 

Der freiberufliche PR-Berater und Geschäftsführer einer Initiative für Down-Syndrom benennt mehrere Voraussetzungen dafür. Zuerst geht es darum, dass nicht nur Menschen mit körperlichen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen einen Anspruch auf Inklusion haben. Zwar denken „beim Thema Inklusion alle sofort an Menschen mit Beeinträchtigungen und konkret an eine Person, die im Rollstuhl sitzt“, aber tatsächlich betrifft Exklusion auch z.B. Menschen mit einer Migrationsgeschichte, mit einer Herkunft aus sozial schwächeren Familien oder ältere Menschen. „Es geht also um weit mehr als die Rollstuhlrampe vor einem nach wie vor nicht zugänglichen Gebäude“.

 

Allzu oft sprechen wir auch von Inklusion, meinen aber in Wirklichkeit Integration, also den Versuch, gehandicapte Menschen in ein bestehendes System, z.B. die Schule, einzupassen. Jochen Mack nennt als Beispiel für diesen verkürzten Begriff die im Schulleben verbreitete Bezeichnung „Inklusionskind“. Nicht die Schule wird damit als inklusiv gedacht, sondern dem exklusiv gelabelten Individuum wird die Aufgabe übertragen, sich zu inkludieren - denn sonst würden wir ja von einer "Inklusionsschule" sprechen.

 

Für den Autor ist das kein Streit um Worte. Bleiben wir bei der Schule. Ein Schul- und Bildungssystem, das inklusiv sein soll, müsse das bestehende drei- oder viergliedrige Schulsystem überwinden, "denn Inklusion kann nie und nimmer von einzelnen Lehrer:innen in einem Schulsystem verwirklicht werden, in dem die Schüler:innen nach wenigen Jahren des gemeinsamen Lernens nach kognitivem Leistungsvermögen separiert werden“.

 

Jochen Mack stellt nicht nur bei der Bildung die Systemfrage. Auch das System der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) schneidet angesichts des Inklusions-Postulats schlecht ab. Er berichtet: „Werkstattträger haben kein Interesse, ihre besten Leute an den allgemeinen Arbeitsmarkt ‚zu verlieren‘, und viele Firmen sind froh über günstige Produktionsstätten. Dies hat zur Folge, dass vor allem Menschen mit kognitiven Einschränkungen vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Damit reduzieren sich dramatisch Kontaktmöglichkeiten von Menschen mit und ohne Behinderung, denn Werkstätten für behinderte Menschen sind sehr oft in Gewerbegebieten am Rande der Stadt zu finden. Die Beschäftigten werden in Extrabussen von ihren separaten Wohnstätten in die Werkstätten gefahren und abends wieder zurück. Damit entsteht ein in sich geschlossenes System, das kaum Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ermöglicht.“ Von über 300.000 Menschen in den WfbM schaffen deshalb allenfalls wenige Hundert pro Jahr den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

 

Freilich gesteht Jochen Mack auch ein, dass die bestehende Realität in den Wirtschaftsunternehmen keine guten Voraussetzungen für Inklusion bietet. „Nur in einem gemeinwohlorientierten Wirtschaftssystem wird es auf Dauer gut gelingen, inklusive Arbeitsstrukturen zu etablieren“, schreibt er. Nur wenn Betriebe massive Steuererleichterungen für die Beschäftigung von Menschen mit Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit bekämen, bestehe die Chance, dass diese Menschen in größerer Zahl auf dem ersten Arbeitsmarkt erfolgreich sind. In letzter Konsequenz müsste eine inklusive Gesellschaft also eine sein, die den Kapitalismus in größeren Bereichen abschafft. Jochen Mack kommt deshalb zu dem Schluss: „In einer kapitalistisch organisierten Wirtschaftsordnung wird der Gedanke einer inklusiven Gesellschaft immer an sehr enge Grenzen stoßen.“ 

 

Dennoch behält er seinen Glauben daran, dass mehr Inklusion möglich ist. Neben aller systemkritischen Betrachtung schlägt er darum eine Reihe von kleinen Schritten und Projekten vor, die uns auf dem Weg zu mehr Inklusion voranbringen. Diese kleinen praktischen Schritte seien auch ein notwendiges Mittel, um der unheilvollen Bedrohung entgegenzuwirken, die vom politisch rechten Spektrum ausgeht. Bekanntermaßen fordert ein Björn Höcke von der AfD, dass die Schulen vom „ideologischen Konzept der Inklusion von behinderten Kindern befreit“ werden müssten.

 

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Aus jedem Stadtteil wird ein Dorf – Wie eine lebensfördernde Ökonomie entsteht

Am 09.04.2025 um 19 Uhr in der stratum lounge

 

Johannes Liess hat sich einen Ruf als Dorfretter erworben. 2003 zog der weltläufige Architekt, der international als Büro- und Projektleiter für die österreichischen Stararchitekten von Coop Himmelb(l)au gearbeitet hat, mit seiner Familie ins mecklenburgische Lüchow, einem Nest, das außer einem Briefkasten, einer Bushaltestelle und fünf letzten Bewohnern im Rentenalter kaum mehr ein Lebenszeichen aussandte. Innerhalb von zehn Jahren gelang es ihm, das Dorf wiederzubeleben, heute wohnen über 60 Menschen in Lüchow, darunter fast die Hälfte Kinder. Bereits 2011 schrieb Liess darüber einen 300 Seiten dicken Roman unter dem Titel „Artgerecht leben: Von einem, der auszog, ein Dorf zu retten“. Jetzt hat er ein neues Buch geschrieben, keinen Roman, sondern ein Sachbuch, das sich streckenweise jedoch auch poetisch gibt. Es geht in dem Buch um Wege zu einer „lebensfördernden Ökonomie“, die der Autor sich als „Wirtschaften mit Herz & Verstand“ vorstellt.

 

Liess glaubt nicht an die Verheißungen eines grünen Massenkonsums nach dem Motto „Wenn wir jetzt ganz schnell ganz viele Teslas produzieren, ist die Welt schon fast gerettet. Alles CO2-frei!“ Er predigt aber auch nicht den Verzicht, sondern setzt darauf, dass ein materiell weniger ausufernder Lebensstil nicht nur der Ökologie, sondern auch uns direkt zugutekommt: „Wir müssen unsere Wirtschaft wieder auf die Grundbedürfnisse unseres Lebens ausrichten, und wir müssen wieder lernen, mit der Natur zu leben und nicht gegen sie, und zwar auf der Grundlage der Erkenntnis, dass wir Menschen Teil der Natur sind und dass alles, was uns guttut, auch der Natur zugutekommt.“ Lapidar stellt er illustrierend fest, dass weltweit inzwischen mehr Menschen an Zu-viel-Essen als an Zu-wenig-Essen stürben.

 

Obwohl es eine Reihe von Optionen gibt, mit denen jede/r Einzelne durch eigene Entscheidungen zu mehr lebensfördernden Verhältnissen beitragen kann („weniger Tiere essen“, „weniger neue Kleidung kaufen“, „Auto verkaufen“), liegt der wesentliche Hebel für eine positive Veränderung nach Auffassung des Autors bei der Politik und der Gestaltung lebensfördernder Rahmenbedingungen. Dazu gehörte dann z.B. eine konsequente Stadtplanung, die die „15-Minuten-Stadt“ anstrebt. Was bedeutet: „Alle täglichen Ziele sollen in maximal 15 Minuten zu Fuß, mit dem Rad oder dem ÖPNV, also ohne Auto, erreichbar sein. Hierzu bedarf es einer ausreichend engmaschigen Verteilung der täglichen Daseinsvorsorge. Insbesondere auch die strenge Trennung von Arbeit und Wohnen wäre aufgehoben. So wird jeder Stadtteil zu einem eigenen Dorf.“

 

Sozialpolitisch modelliert Johannes Liess eine wesentliche Verbreiterung der Vermögenssituation und verbindet dies mit einem wohnungspolitischen Vorschlag: „Den Hebel für die Erhöhung der Vermögensquote sehe ich vor allem im Wohneigentum. Würden alle ihre Wohnung selbst besitzen, wäre schon die Hälfte des Problems gelöst. Ist das utopisch? Und wie soll das gehen? Ganz einfach, alle Mieterinnen und Mieter bekommen ein Kaufrecht für ihre Wohnung, der Kaufpreis liegt beim Zehnfachen der Jahreskaltmiete. Abgesichert wird der Kauf über eine staatliche Bürgschaft. Statt dass jeder und jede einzeln kauft, wäre auch gemeinschaftliches Eigentum zum Beispiel in Genossenschaften sinnvoll.“

 

Erklärt Liess diesen Vorschlag selbst für gar nicht so utopisch, so gewinnt er mit anderen Vorschlägen dann doch wieder eine utopische Flughöhe. Dass in Deutschland ein Drittel aller Flächen unter Naturschutz steht, genügt ihm nicht. Er fragt stattdessen: „Wäre es nicht besser, das ganze Land unter Naturschutz zu stellen?“

 

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